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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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und ihm Türen öffneten, hatte er es geschafft, sich schnell in England einbürgern zu lassen und sich eine Zukunft aufzubauen. Sein alter Onkel Pjotr mit dem kleinen, russischen Antiquitätenladen war damals noch am Leben gewesen. Er hatte in seinem Laden mitgeholfen, hatte das richtige »Händchen« für russische Antiquitäten, wertvolle Ikonen und echte, besonders kunstvolle russische Samoware gehabt, die bei den Briten sehr beliebt waren, hatte das Geld aus der Rothschild-Bank investiert und sich schließlich nach dem Tod des Onkels sein
eigenes kleines »Imperium« mit mehreren Antiquitätengeschäften aufbauen können. Er genoß das Vertrauen seiner Kunden. Der Rest war noch etwas Glück an der Börse.
    Heute scheint ihm sein früheres Leben fast unwirklich. Seine Kindheit in Rußland, die Zeit in Bremen, die Jahre als Bettler zurück in Moskau, seine Flucht nach England. Als seien es Erinnerungen aus einem anderen Leben, doch Erinnerungen, die ihn erst zu dem machten, der er heute war. Ohne diese schlimmen Zeiten würde er heute sein Leben nicht so genießen. Sie hatten ihn Demut, Dankbarkeit und Durchhaltevermögen gelehrt, und wenn er sich jetzt beinahe wie selbstverständlich in seinem luxuriösen Wagen von seinem Chauffeur durch Europa fahren ließ, in London ein herrschaftliches Haus mit Butler und Gärtner bewohnte, so hatte er doch nie vergessen, wie sich die andere Seite des Lebens anfühlte. Der Wohlstand hatte ihm nicht die Menschlichkeit und das Mitgefühl geraubt, und das Leben hatte ihm noch viele Jahre geschenkt, um seinen späten Reichtum zu genießen.
    Der alte Mann steckt den Brief wieder ein, lehnt sich in seiner bequemen Ledersitzbank zurück. Die fremde Landschaft gleitet langsam an ihm vorbei, und er versinkt in ihr und seiner Gegenwart.

»It’s tea-time, Sir«
    Als der Rolls-Royce vor der Einfahrt des Grandhotels Bristol hält, schreckt der alte Mann hoch. Können die zwei bis drei Stunden, von denen George gesprochen hatte, so schnell vergangen sein? War er etwa eingeschlafen? Oder hatten seine Gedanken und Gefühle Raum und Zeit besiegt? Schon wird die Tür geöffnet, und George reicht ihm die Hand, um ihm beim Aussteigen zu helfen. Der Hotelpage macht sich inzwischen am Kofferraum und dem Gepäck zu schaffen.
    »Nein, nicht den braunen Koffer! Den nehme ich selbst«, greift der alte Mann sofort ein. Seinen alten, braunen, etwas abgenutzten Koffer mit den Messingbeschlägen trägt er immer selbst. Auch
George oder sein Butler dürfen ihn nicht anrühren. Man tut es als eine Marotte ab und respektiert es selbstverständlich.
    Das Hotel ist von außen einer jener eher häßlichen Neubauten, innen zwar sehr luxuriös, aber für seine Begriffe viel zu modern eingerichtet. Die neuen Zeiten hatten einen Geschmack hervorgebracht, der ihm völlig fremd war. Er wäre viel lieber in einem der alten Jugendstilhotels der Stadt, zum Beispiel dem legendären »Palace« abgestiegen, aber dieses Hotel hatte während des Krieges als Lazarett gedient und war dabei weitgehend ruiniert worden. Man arbeitete offenbar daran, es zu sanieren und wieder zu eröffnen, aber noch war es nicht soweit, und so war das Grandhotel Bristol das beste Haus der Stadt.
    Der alte Mann legt den Koffer behutsam auf sein breites, für seinen Geschmack viel zu niedriges Bett, während George und der Hotelpage um ihn herum das übrige Gepäck versorgen, seine Anzüge in den Schrank hängen, sein mitgebrachtes Kissen bereitlegen. Er sieht auf seine Uhr. Es ist fünf Minuten nach vier. Bis zur Teestunde hat er noch genau 25 Minuten Zeit. Das müßte reichen. Er schickt George und den Pagen aus dem Zimmer.
    Er greift nach dem Telefonhörer, läßt sich mit der Stadtverwaltung verbinden. Es dauert eine Weile bis die Verbindung steht, und er erwägt, den Hörer wieder aufzulegen. Plötzlich erfüllt ihn eine Nervosität, die ihm beinahe fremd ist und die sich nicht bezwingen läßt: Was wird er in diesen nächsten Minuten, an diesem nächsten Tag erfahren? Wie soll sein Leben weitergehen, wenn der Augenblick überschritten ist, den er jahrzehntelang in seinem Kopf und seinem Herzen vorausgelebt hat? »Ich würde Sie sehr gern noch einmal auf Ihrem Fagott spielen hören« hatte als Nachsatz in dem Brief gestanden. Würde seine Lebensaufgabe danach erfüllt sein? Würde dann nur noch Leere bleiben? Oder war der Mann, den er suchte, vielleicht gar nicht in der Stadt? Oder … vielleicht gar nicht mehr am Leben? Diesen Gedanken hatte

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