Der Mann mit dem Fagott
er immer verdrängt. Wie würde er mit solch einer Erkenntnis umgehen? Doch der alte Mann weiß, daß er sich den Eventualitäten stellen muß, jetzt und hier. Was auch immer er erfahren wird, es wird Klarheit und vielleicht Ruhe in sein Leben bringen. Es wird gut sein, beruhigt er sich.
Eine Frauenstimme meldet sich auf Deutsch am anderen Ende der Leitung. In Meran wird erstaunlich viel deutsch gesprochen.
Der alte Mann braucht ein paar Sätze, bis er wieder mit dieser Sprache vertraut ist, die er so lange nicht gesprochen, aber nicht verlernt hat. Die Sprache schwemmt alte Gefühle in ihm hoch. Seine Stimme wird ihm fremd in dieser Sprache seiner Jugend.
Doch dann fängt er sich, und er trägt sein Anliegen vor. »Ich bin von weit her aus England gereist, um einen Mann zu finden, der mir vor vielen, vielen Jahren sehr viel bedeutet und mir das Leben gerettet hat. Ich habe herausgefunden, daß dieser Mann, ein Deutscher, der früher in Moskau einer der wichtigsten Privatbankiers war, vor ungefähr fünfzehn Jahren hierher in Ihre schöne Stadt gezogen ist. Er müßte inzwischen über 80 Jahre alt sein, vermute ich, und es würde mir unendlich viel bedeuten, wenn Sie mir helfen könnten, ihn zu finden. Sein Name lautet Heinrich Bockelmann.«
Der alte Mann hält in gespannter Erwartung inne und streicht sich nervös über das Haar.
»Einen Moment bitte.« Er hört ein Knacken in der Leitung. Die Wartezeit erscheint ihm endlos. Schließlich meldet sich ein Mann, der sich als stellvertretender Bürgermeister vorstellt und ihn in Meran herzlich willkommen heißt. »Meine Mitarbeiterin hat mich über Ihr Anliegen informiert. Tatsächlich hat Heinrich Bockelmann hier gelebt, ich habe ihn selbst noch kennengelernt.« Der alte Mann hält angstvoll den Atem an. Der stellvertretende Bürgermeister hat die Vergangenheitsform benutzt. Sollte Heinrich weggezogen sein? Oder gar …? - »Aber leider muß ich Ihnen mitteilen, daß Heinrich Bockelmann vor ungefähr zehn Jahren verstorben ist.«
Der alte Mann muß sich setzen. Natürlich hat er mit dieser Möglichkeit rechnen müssen, aber er hatte sie nie ernsthaft in Betracht gezogen. Heinrich Bockelmann mußte mindestens fünf bis zehn Jahre jünger sein als er, und so lange er selbst lebte und es ihm so gutging, konnte der Mann, dessen Schicksal so eng mit seinem verknüpft war, ohne daß sie sich je richtig kennenlernen konnten, nicht tot sein. Er hatte immer gedacht, daß er es fühlen würde, wenn Heinrich Bockelmann nicht mehr lebte. Und er war sich sicher gewesen, daß das Schicksal ihnen diese Begegnung nicht verwehren würde. Das war kindisch gewesen, er sieht es in diesem Augenblick ein.
»Wo …« Er räuspert sich. »Ich meine … Können Sie mir vielleicht sagen, wo Heinrich Bockelmann begraben liegt?«
Der alte Mann kämpft mit seiner brechenden Stimme.
»Natürlich. Sein Grab ist auf dem evangelischen Friedhof, hier in Meran.« Der stellvertretende Bürgermeister erklärt ihm den Weg, bedauert noch einmal, ihm keine bessere Nachricht geben zu können, bietet seine Dienste für weitere Fragen an und wünscht ihm trotz allem eine schöne Zeit in Meran.
Der alte Mann legt den Hörer auf die Gabel. Schmerzende Stille. Leere, Trauer und Angst. Selten hat er seine eigene Sterblichkeit so hautnah gespürt. Ihm ist, als habe man ihm einen ganz nahestehenden Menschen geraubt und damit auch ein großes Stück der eigenen Lebenskraft. Dabei kannte er Heinrich Bockelmann doch gar nicht … Er kämpft mit seinen sich widersprechenden Gefühlen. Trauer, Wut, Angst, aber auch Trotz nimmt er wahr, und noch vieles mehr, was er nicht benennen kann.
Mit ineinandergelegten Händen und geschlossenen Augen sitzt er in seinem nüchtern-zweckmäßigen Sessel und versucht, zur Ruhe zu kommen, die Gewißheit zu begreifen, die Stille zu ertragen.
Es klopft leise an der Tür, und George betritt diskret mit einem Tablett in der Hand den Raum und sagt gutgelaunt: »It’s tea-time, Sir.«
Der friedliche Klang
Der alte Mann erwacht aus viel zu kurzem, unruhigem Schlaf. Er hatte wieder den wiederkehrenden Traum geträumt, er sei auf See, auf der Maxim Gorkij, irgendwo mitten im Ozean, wissend, daß er nie an Land, nie in Freiheit kommen würde. Lange schon war der Traum ferngeblieben, doch jetzt hatte er ihn wieder eingeholt. Heute, am dreißigsten Jahrestag seiner geglückten Flucht. Draußen dämmert es. Erste Vögel singen. Er ist sich nicht sofort bewußt, wo er sich befindet und
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