Der Mann mit dem Fagott
ein. Ich stehe vor 9000 Menschen und bin doch ganz bei mir selbst. Der Spot, der mich in grelles Licht taucht, beschützt mich. Er gibt mich preis und verbirgt mich gleichermaßen. Ein warmer, schützender Lichtdom, in den ich eintauche. Die Welt um mich herum wird ausgeblendet. Alles, was mich bedrohen, mir angst machen, mich verunsichern könnte, verschwindet im Dunkeln. Die Menschenmenge vor mir ist in eine undurchdringliche Wand aus purem Gefühl verwandelt. Ich kann sie nicht mehr sehen, nur noch spüren. Ich richte meinen Blick ins Nichts. Aufbrausender, schier endloser Auftrittsapplaus gibt mir Sicherheit. Er trägt mich. Ich spüre, wie beruhigende Kraft in meinen Körper strömt, spüre, daß mir heute alles gelingen kann, daß mir alles gelingen wird .
Ich bin dort, wo ich als Zwölfjähriger schon sein wollte, auf der richtigen Seite des Vorhangs, dort, wo, die Träume triumphieren und die Wirklichkeit das Nachsehen hat.
Es ist wieder soweit. - Das Spiel kann beginnen …
EPILOG
Norditalien und Meran, 27. und 28. Mai 1955
Die Reise
Beinahe unwirklich gleitet der schwere schwarz-gelbe Rolls Royce »Phantom« mit britischem Kennzeichen im Dunst eines niedergehenden Frühlingsregens durch die norditalienische Landschaft. Die mächtigen Alpen erheben sich rechts und links wie unscharfe Schattenrisse scheinbar aus dem Nichts. Der alte Mann fächert sich mit der »Harold Tribune« Luft zu, sieht auf seine Uhr, drückt dann auf den Knopf, der die Scheibe zwischen ihm und dem auf der rechten Seite sitzenden Fahrer absenkt, dem der kontinentale Rechtsverkehr erstaunlich wenig Probleme zu bereiten scheint.
Der alte Mann spricht Englisch mit einem starken russischen Akzent und dem typischen rollenden »r«. So gut wie Deutsch hat er die Sprache in all den Jahren nicht gelernt: »George, do you think, we will arrive at Meran before tea-time?«
George nickt. »Yes, I think so, Sir, indeed. It’s not so much traffic. I guess, we’ll need another two or three hours, not more.«
»That would be great. If not, we would have to take a rest at some other place along the road to have a cup of tea.«
»Of course, Sir.«
Der alte Mann hat es sich angewöhnt, pünktlich um 16:30 Uhr eine Teestunde abzuhalten, und daran möchte er auch auf Reisen nichts ändern. Da kommen die russische und die britische Tradition sich entgegen.
Der alte Mann schließt die Scheibe zwischen ihm und dem Fahrer wieder, blickt halb interessiert in seine Zeitung, die er im wesentlichen
bereits gelesen hat. Große Artikel über die Wahlen zum britischen Unterhaus. Mit Befriedigung hat er zur Kenntnis genommen, daß die Konservativen unter Anthony Eden mit fast 50 Prozent die stärkste Partei geworden sind. Im internationalen Teil nimmt immer noch die Diskussion über die Auswirkungen des österreichischen Staatsvertrages den größten Raum ein, der vor wenigen Tagen unterzeichnet wurde und Österreich zum Opferland Hitlers erklärt und ihm die Freiheit unter der Bedingung »Immerwährender Neutralität« schenkt. Der alte Mann versteht es nicht, immerhin waren doch sehr viele der Nazigrößen Österreicher, sogar Hitler selbst, denkt er sich, und Deutschland und Österreich waren ein geeintes Land. Aber vielleicht kann man in seinem Alter die Welt auch einfach nicht mehr so ganz verstehen.
Im Kulturteil eine Notiz, die ihn nachdenklich stimmt: Bertolt Brecht hat in Moskau den sogenannten »Internationalen Friedenspreis« entgegengenommen. Der alte Mann spürt, daß ihn das Thema aufwühlt. Wie kann sich ein bedeutender westlicher Schriftsteller, ob nun Kommunist oder nicht, von so einem Land ehren lassen? Ist das Naivität? Dummheit kann es ja wohl bei Brecht nicht sein. Er versteht es nicht und versucht, das unangenehme Gefühl zu verdrängen. Die Börsenkurse sind wenigstens befriedigend und durch den konservativen Wahlsieg gestiegen. Das sind wirklich gute Nachrichten.
Er öffnet sein Fenster einen Spaltbreit. Es ist ungewöhnlich heiß für die frühe Jahreszeit. Auch der Regenschauer, der die Landschaft um ihn verhüllt, hat keine echte Abkühlung mit sich gebracht. Dunstfetzen und dunkle Wolkentürme tief vor den bewaldeten Berghängen. Dahinter, hoch oben, wo die blanken Felsen beginnen, klart es schon wieder auf.
Der Wagen bewegt sich fast geräuschlos. Nur das zischende Geräusch der Reifen auf dem nassen Asphalt ist zu hören. Seit einigen Tagen ist man nun schon unterwegs. Der alte Mann hat die Reise auch genützt, um Orte zu
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