Der Mann mit dem Fagott
Mannes zu fein, zu lebendig. Ein Bettler würde den Hut auch nicht auf dem Kopf tragen, sondern vor sich stellen in der Hoffnung auf milde Gaben.
Der Kreis der Zuhörer vergrößert sich. Heinrich wird ein wenig abgedrängt. Er kann den Fagott-Spieler nicht mehr sehen. Nur noch hören. Jemand tuschelt: »Der macht Reklame für das Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße. Da vorn ist ein Plakat mit der Einladung.«
Heinrich Bockelmann lächelt. Erinnerungen an die noch nicht so lange zurückliegende Schulzeit werden wach. Kameraden, Lehrer. Das Alte Gymnasium war auch das seine gewesen. Und das Katharinas. Vielleicht sollte er hingehen. Es wäre eine schöne Gelegenheit, die alten Freunde wiederzusehen. Ein seltsamer Gedanke: Menschen wiederzufinden, die er lange nicht gesehen hat, um sie danach gleich wieder zu verlieren. Er schüttelt den Kopf. Erwachsen zu werden, schien zu bedeuten, Abschied zu nehmen. Nicht nur von der Kindheit. Das hatte er nie in der Schule gelernt.
Heinrich geht ein wenig auf und ab. Das fast mystische Spiel des Fagottisten begleitet ihn, zaubert ein Lächeln auf sein Gesicht, ist in geheimnisvoller Weise Antwort auf Heinrichs unausgesprochene Sehnsucht. Heinrich fühlt es plötzlich ganz klar: Er muß nach Rußland. Es ist, als wäre der Klang des Fagotts, die russische Melodie so etwas wie ein Versprechen, ein Hinweis auf den richtigen Weg. Manchmal konnte Musik solch einen Hinweis geben. Oder auch Dichtung oder Malerei. Er hatte es schon manches Mal in seinem Leben gespürt: wenn er ein Buch las und ihm plötzlich etwas über ihn selbst bewußt wurde, er neue Werte fand oder etwas begriff, was er schon immer in sich selbst gefühlt hatte, ohne es benennen zu können. Doch so stark wie heute hatte er es noch nie empfunden.
Das Fagott schweigt. Plötzlich. Heinrich horcht auf, hält inne, wartet, vermißt den Klang; bestimmt macht der Mann nur eine kurze Pause, setzt gleich wieder ein. Doch ein Atemzug vergeht. Und noch einer. Und wieder einer. Das Fagott schweigt. Hastig bezahlt Heinrich seinen Lebkuchen, eilt zurück an die Stelle, an der er den Mann mit dem Fagott zuletzt gesehen hat, doch die Menge zerstreut sich, der Mann ist verschwunden. Nur das Plakat
erinnert noch an ihn, ein Beweis, daß er sich den Mann mit dem Fagott nicht einfach nur eingebildet hat. »Einladung zum Schüler-Weihnachtsspiel im Alten Gymnasium in der Dechanatstraße. An allen Sonntagen im Advent und am Christtag um fünf Uhr nachmittags. Bringen Sie Ihre Freunde mit! Der Eintritt ist frei, Spenden sind erwünscht.«
Heinrich sieht sich um, tritt aus den Arkaden, sieht in jede Straße. Weit kann er noch nicht sein. Er geht ein Stück, biegt um eine Ecke. Plötzlich, in weiter Ferne, in seltsam lichtem Nebel, ist ihm, als ahne er die Konturen des zerknitterten Zylinders, ahne den Gehrock wehen, doch schon im nächsten Moment ist niemand mehr zu sehen. Stille, die ihn beunruhigt, als habe er etwas unendlich Wertvolles in ihr verloren.
Do swidanja
Früh am Morgen. Die Stadt liegt noch in tiefem Schlaf. Dunkelheit. Nur in vereinzelten Fenstern das schwache Licht der Frühaufsteher, Kerzen und Petroleumlampen. Noch hat man den Weihnachtsschmuck in den Gärten, an den Häusern nicht abgenommen. Heinrich hat eine kleine Kutsche gemietet, obwohl er gern zu Fuß gegangen wäre. Doch dazu ist sein Koffer zu schwer.
Niemand begleitet ihn. Es war sein Wunsch. Er hat schon gestern, am Heiligen Abend, Abschied genommen. Von seiner Mutter, dem Bruder, den Großeltern, ein paar Freunden. Nur Katharina hat er nicht mehr gesehen. Er hat ihr einen Brief geschrieben und ihn ihr gestern mittag mit einem kleinen Päckchen in ihren Briefkasten gelegt.
Die Straßen sind menschenleer. Stille. Nur die Räder der Kutsche schleifen, die Hufe des Pferdes klappern leise im Schnee.
Heinrich lehnt sich zurück, fühlt sich plötzlich schwer, ungelenk. Seine Entscheidung erscheint ihm mit einem Mal viel zu groß. Warum hat er es sich selbst so schwergemacht!? - Ausgerechnet Rußland! Für einen Augenblick weiß er keine Antwort darauf.
Doch er weiß, daß er sie wiederfinden wird, später, wenn die Entfernung von hier ihn mehr den Neubeginn fühlen läßt als den Abschied.
Die Kutsche nimmt den Weg durch die engen, verträumten Gassen mit den Fachwerk- und Backsteinhäusern, die für Heinrich Kindheit und Heimat bedeuten.
Plötzlich ein Anblick, der Heinrich fast erschreckt und ihn an seiner Wahrnehmung zweifeln
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