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Der Mann mit dem Fagott

Titel: Der Mann mit dem Fagott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Juergens , Michaela Moritz
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von dem Gedanken, in eine Demonstration des Volkszorns zu geraten, doch die Menge macht einen friedlichen Eindruck, und so läßt er den Kutscher nur über die Seitenstraßen ausweichen, zwei der romantischen Brücken der Mojka überqueren und an der Dworzowaja naberschnaja, der Uferstraße der Newa, nahe der Admiralität halten. Von hier aus hat er eine gute Sicht und kann doch auch jederzeit schnell die Flucht ergreifen, wenn es nötig sein sollte.
    Der große Platz vor dem Winterpalais mit der Alexandersäule füllt sich immer mehr. Hunderte, ja Tausende Menschen drängen sich immer dichter aneinander. Noch nie zuvor hat Heinrich solch eine große Menschenansammlung gesehen, nicht einmal bei den Massendemonstrationen in Moskau im Krisenjahr 1905.
    Ein Zeitungsjunge drängt sich an der Kutsche vorbei, einen Packen Extrablätter auf dem Arm. Heinrich hält ihn auf. Ein wenig verunsichert und verängstigt weicht der Junge vor dem großen, breitschultrigen Mann mit dem unverkennbar deutschen Akzent zurück. Eine neue Erfahrung für Heinrich, widersinnig gerade in diesem Moment, in dem er sich so machtlos fühlt wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er greift in seine Tasche, holt einen Rubel heraus, bittet höflich um eine Zeitung. Mit ausgestrecktem Arm greift der Junge zögernd nach dem Geld, reicht ihm das Blatt und beginnt zu rennen, als suche er Schutz in der Menge. Die Kriegserklärung des Zaren. Mit großen russischen Lettern schwarz auf weiß. Kämpferischer Patriotismus und Deutschenhaß, ungeschönt und hemmungslos, wie Heinrich ihn noch nie zuvor in einer ernstzunehmenden russischen Zeitung gelesen hatte. Er faltet das Blatt, steckt es in seine Jacke.
    Der Strom der Tausenden reißt nicht ab. Als die Menschen sich das letzte Mal in Massen diesem Platz genähert hatten, waren sie gekommen, um dem Zaren ihren Protest gegen die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen im Reich zu übermitteln. Eine friedliche Arbeiterkundgebung, die Nikolai durch Schüsse in die Menge beantworten ließ. 500 unbewaffnete Demonstranten waren damals durch die Gewehre der zaristischen Polizei getötet
worden. Ein Blutbad auf diesem Platz. Neun Jahre war es her. Es war ein Sonntag wie heute gewesen. Der 9. Januar 1905, nach alter russischer Zeitrechnung, oder der 22. Januar 1905 nach neuer - westlicher - Datumsrechnung. »Blutsonntag.« Der Beginn einer großen Staatskrise, die zehn Monate lang das Leben in Rußland mit einer Streikwelle bisher unbekannten Ausmaßes lahmgelegt hatte und die nach dem Einlenken Nikolais und dem Einsetzen einer Duma mit einigen Scheinreformen gemildert wurde. Bis zum heutigen Tag aber hatte sie unter der Oberfläche weitergeschwelt.
    Heinrich fragt sich, welche Gedanken die Tausende Demonstranten heute bewegen. Sind sie gekommen, um gegen den Krieg zu protestieren, riskierten sie wie vor neun Jahren ihr Leben, um dem Zaren ihr Mißfallen zu überbringen? Eine Demonstration gegen einen Krieg, der die Armen des Landes noch ärmer machen, der sie ihr letztes Stück Brot, ihr letztes Getreide und Vieh, ihr letztes Hemd kosten wird? Heinrich Bockelmann hält es für möglich. Es waren einfache Leute, keine Soldaten, die sich hier versammelten. Arbeiter, Frauen, Kinder. Sie dachten nicht in Begriffen von Ehre und Vaterland. Sie dachten an ihr Überleben, dessen war Heinrich sich sicher. Auch einige Männer mit den typischen roten Armbinden haben sich eingefunden. Ungehindert werden auch sie von der Polizei vorgelassen.
    Heinrich sieht sich um, sucht nach einem ein wenig erhöhten Platz, um das Geschehen vor ihm noch besser überblicken zu können. Höflich fragt er den Kutscher, ob es ihm etwas ausmache, wenn er sich zu ihm auf den Kutschbock geselle. Sichtlich etwas verwundert verbeugt jener sich wie in alten Zeiten, »Selbstverständlich, Barin!« und reicht ihm eine helfende Hand.
    Was Heinrich von hier oben aus sieht, raubt ihm beinahe den Atem. Es sind nicht Hunderte und auch nicht Tausende, sondern wohl Hunderttausende Menschen. Eine unüberschaubare, dichtgedrängte, fahnenschwingende Menge. Farben des Russischen Reichs, des Zarenhauses, der verschiedenen Provinzen wehen im lauen Wind. So sieht keine Protestkundgebung aus. Heinrichs letzte Hoffnung auf den sonst verhaßten und jetzt beinahe ersehnten Volkszorn gegen das Zarenhaus schwindet. Doch ehe er dies ganz begreift, bricht die Menge in lautes Jubeln aus. Der Platz, ja die ganze Stadt hallt wider von der Begeisterung aus

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