Der Mann mit dem Fagott
noch keiner von ihnen alt genug, um einberufen zu werden. Anna ist russische Untertanin, bereits in Moskau geboren, Halbrussin. Das wird sie und die Kinder vorerst schützen. Aber man wird Rußland verlassen müssen, in ein neutrales Land ausreisen. Zumindest vorübergehend. Einen anderen Weg scheint es nicht mehr zu geben. Eine klare Erkenntnis, die viel zu spät kommt. Hätte man es kommen sehen müssen? Hoffentlich ist es für den letzten Ausweg nicht zu spät. So schnell ändern sich Wünsche.
Roman Antonowitsch Lehmann steht immer noch am Fenster. Die Mietkutsche ist vorgefahren, Kutscher Kolja wie immer geduldig wartend auf dem Kutschbock, als hätte sich nichts geändert, als sei Roman Antonowitsch Lehmanns Welt nicht vor wenigen Augenblicken untergegangen. Eine Geste der Treue, die ihn rührt.
Sein Sohn Robert ist zu ihm getreten, legt ihm die Hand auf die Schulter. Eine stumme Geste des Abschieds. »Es muß Blut fließen!« hatte er noch vor ein paar Tagen, erzürnt über Kaiser Wilhelms Arroganz erklärt, und »Ich freue mich darauf, meinem neuen Vaterland meine Treue mit der Waffe gegen Deutschland in der Hand beweisen zu dürfen!« Ganz jugendlicher Held. Durchdrungen von einem Ehrbegriff, der durch keinen materiellen oder ideellen Wert aufzuwiegen war. Roman Antonowitsch Lehmann, der mit seinen 59 Jahren immer noch preußischer Reserveoffizier war, hatte dazu geschwiegen und einfach nur gehofft, es möge nicht zum Äußersten kommen, es möge vorbeigehen wie ein Sturm, der sich zusammenbraut, für eine Weile den Himmel verdunkelt und sich verzieht, ohne sein tosendes Spiel mit der Welt zu treiben. Nun stand sein Sohn vor ihm, bereit, für Rußland in den Krieg zu ziehen. Roman Antonowitsch Lehmann hat der Unaufhaltsamkeit der Ereignisse nichts mehr entgegenzusetzen. Er bemüht sich um eine würdevolle Haltung, nickt nur stumm, als Robert kurz erklärt: »Ich glaube, es ist Zeit.«
Auf der anderen Seite des Raumes ist Werner Vogel dabei, Abschied zu nehmen, bereit, sich auf den Weg in sein sächsisches Regiment zu machen und in den Krieg gegen seine zweite Heimat und seinen besten Freund zu ziehen. Die Blicke der beiden jungen Männer treffen sich. Eng verbunden seit Kindertagen. Plötzlich
Gegner, Feinde, durch Eid und Ehre verpflichtet, einander zu töten, sollte man sich im Feld gegenüberstehen. Jeder hält dem festen Blick des anderen stand.
Werner Vogel besinnt sich als erster, geht langsam auf Robert und dessen Vater zu, reicht Robert schweigend beide Hände, die dieser fest ergreift. Der »Riß durch die Seele«, von dem Hofphotograph Fritz Eggler gesprochen hatte, könnte tiefer nicht sein. Er geht mitten durch die Familien, spaltet Freunde, sogar Brüder. Der russische Zar und der deutsche Kaiser sind Vettern und nun, als oberste Kriegsherren, Kriegsgegner. Unbegreifliche Brutalität einer völlig in die Irre gelaufenen Geschichte, die niemand mehr aufzuhalten vermag, keine Vernunft der Welt. Jeder Mann muß seine Pflicht erfüllen, auf der einen, wie auf der anderen Seite, für das Land, das er als sein Vaterland betrachtet, zu Felde ziehen, gegen jeden, der auf der anderen Seite steht, Bruder, Vetter, Freund oder gar Vater.
Roman Antonowitsch Lehmann sieht erschüttert von seinem Sohn zu dessen bestem Freund und wieder zu seinem Sohn. Er schüttelt den Kopf. Die gemeinsame Kindheit der beiden läßt das, was in diesem Moment geschieht, unwirklich erscheinen, kaum zu begreifen, fast unmenschlich. Tausend Erinnerungen werden wach. Gemeinsam hat man das Schwimmen gelernt und das Reiten, hat versucht, sich gegenseitig zu übertrumpfen - um sich im nächsten Augenblick beizustehen und gemeinsam durch’s Ziel zu gehen. Geteilte Geheimnisse, Blicke, die die Gedanken des anderen ohne Worte verraten, das Gefühl, den anderen besser zu kennen als einen Bruder. Dutzende Zankereien um einen Ball, einen Roller, später ein Mädchen. Blutige Nasen und versöhnende Umarmungen. Treueschwüre: »Niemals wird eine Frau ernsthaft zwischen uns stehen!« Nun ist es die ganze Welt, die zwischen den beiden steht. Unüberwindlich. Keiner der beiden hat eine Wahl. Der Treueschwur des Soldaten steht höher als jede Freundschaft. Roman Antonowitsch Lehmann war lange genug Soldat, um das zu wissen und um zu begreifen, daß kein Wort der Welt daran irgendetwas ändern kann. Bisher war das immer klar und unantastbar und einfach. Man wird Soldat, um in den Krieg zu ziehen. Sentimentalitäten hatten darin keinen Platz.
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