Der Mann mit dem Fagott
hunderttausend
Kehlen. Der Zar hat in seiner weißen, reich verzierten Gardeuniform mit der Zarin den Balkon des Palais betreten. Die Generäle und Berater hinter ihm an der Schwelle des Balkons, kaum zu sehen. Nahezu allein, nahezu schutzlos sieht er sich der riesigen Menschenmenge gegenüber, um ihre Ehrerbietung entgegenzunehmen.
Ein überwältigender Anblick, den Heinrich Bockelmann kaum fassen kann. Nie hätte er diesen Patriotismus, den scheinbar unwiderstehlichen Sog dieses Krieges für möglich gehalten, den noch vor wenigen Stunden niemand zu wollen schien. Er scheint eine tiefe Sehnsucht im Volk geweckt und gestillt zu haben. Sehnsucht nach einem Ziel, nach starker Führung, nach der Illusion einer patriotischen Einheit, die schon lange keine mehr war. Jubel für einen im Frieden verhaßten und verunglimpften Zaren, ein bekämpftes und instabiles Regime.
Arbeiter und Fabrikbesitzer, Bauern und Beamte, Bolschewiken und Kapitalisten demonstrieren ihre Geschlossenheit. Bereit, ihr Leben für diesen Krieg und diesen Zaren zu opfern. Verbündet im durch nichts zu brechenden Willen, ihr Blut für ihren Nationalstolz hinzugeben. Gegensätze, die das Land noch vor wenigen Tagen gespaltet und beinahe zerrissen haben, sind vereint im Kampf gegen einen einzigen Feind. Die paradoxe befriedende Wirkung eines neuen Krieges, der politische Gegner in Blut und Ehre verbrüdert.
Heinrich Bockelmann weiß in diesem Moment, daß es für ihn nie mehr einen Weg zurück in dieses Land geben wird. Seine Zukunft stirbt im Jubelschrei aus hunderttausend Kehlen. Kein Ausweg mehr, keine Lösung, keine Hoffnung, nur noch die große Ungewißheit. Ein schwarzes Loch, das ihn verschlingt.
Die unerträgliche Hitze, die durchwachte Nacht, der Lärm. Die Menge verschwimmt vor seinen Augen. Flimmernde Farbpunkte, Lichtreflexe. Er versucht, sich zu konzentrieren. Kalter Schweiß. Atemnot. Rasender Puls.
Plötzlich, wie von Geisterhand dirigiert, verstummt jeglicher Jubel, und eine ehrfürchtige, fast unheimliche Stille erfüllt den Platz. Hunderttausend Menschen sinken nach und nach vor dem Zaren auf die Knie und beginnen, von niemandem geleitet, von niemandem befohlen, als hätten sie alle nur noch einen Willen und einen Gedanken, die Zarenhymne zu singen. Ein Chor aus hunderttausend
Stimmen, die sich zu einer einzigen großen Stimme vereint. Ein Gesang der Macht, wie er eindrucksvoller noch nie zuvor irgendwo auf der Welt erklungen sein mag. Patriotismus ist plötzlich ein Klang, ist die unvorstellbare Harmonie dieses Gesangs, der von allen Mauern der Stadt und sogar vom Wasser der Newa widerhallt.
Heinrich Bockelmann erlebt es wie ein Unwetter, ein unheilverkündendes Donnergrollen. Seine Knie zittern.
Gott schütze den Zaren,
Mächtig und überlegen.
Er versucht, die Beklemmung zu verscheuchen, die der Gesang um ihn legt. Ruhig zu atmen fällt ihm schwer. Er stützt sich auf die Rückenlehne des Kutschbocks. Sogar der Kutscher stimmt leise in den Chor mit ein.
Herrsche zu unserem Stolz,
Herrsche zu unserem Ruhm!
Die langsame, getragene Melodie wird durch hunderttausend Stimmen zum schier unbesiegbaren Schlachtruf:
Herrsche zur Vernichtung unserer Feinde!
Gott schütze den Zaren!
Heinrich Bockelmann muß sich setzen. Er nimmt das Geschehen um ihn herum mit der fernen, peinigenden Deutlichkeit eines Alptraums wahr. Bisher unbekannte Wogen der Gefahr. Einsamkeit. Er darf jetzt nicht schwach werden. Er muß nach Hause, zu seiner Familie, muß sie in Sicherheit bringen.
Plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Er erkennt das Gesicht des Kutschers. »Barin …«, eine Stimme wie aus weiter Ferne. »Barin … ist Ihnen nicht gut?«
Heinrich Bockelmann konzentriert sich. »Es geht schon wieder.« Lächelnd zieht der Kutscher eine kleine, flache Metallflasche aus seinem Leinenhemd. »Nehmen Sie einen Schluck. Bester, selbstgebrannter Wodka. Das hat noch immer geholfen.«
Heinrich Bockelmann greift nach der Flasche, nimmt einen Schluck, hustet, schüttelt sich. Das wohl stärkste Gebräu, das er je in seinem Leben getrunken hat, aber das Brennen scheint die Lebensgeister wieder zu wecken. Er bekommt wieder etwas besser Luft und atmet tief durch.
Einfühlsam und leise die Stimme des Kutschers: »Barin, Sie können mir vertrauen, auch wenn Sie ein Deutscher sind und ich ein Russe. Ich bringe Sie jetzt sicher zum Bahnhof, machen Sie sich keine Sorgen.«
Heinrich Bockelmann nickt dankbar, reicht dem Kutscher mit einer hilflosen
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