Der Mann mit dem Fagott
Ehre und Pflicht waren die Begriffe, die sein Leben geprägt und geformt haben, und so hat er
auch seine Söhne erzogen. Doch in dieser Stunde kommen ihm zum ersten Mal in seinem Leben Zweifel. Er versucht, den Gedanken zu verdrängen, doch es gelingt ihm nicht.
Er legt jedem der beiden eine Hand auf den Arm, dieser Abschied erscheint ihm unmenschlich. Wie die Werte, auf die er selbst sein Leben gebaut hat. Waren es diese Werte, die nun dafür sorgten, daß die Welt, in der man bisher gelebt hatte, unterging, daß Freundschaften und Familien zerrissen wurden und kein Stein mehr auf dem anderen blieb? War es dieser vorschnelle Begriff von Ehre und Pflicht, der leichtfertig einen hitzigen Krieg vom Zaun gebrochen hatte? War es die Treue des Soldaten, die in den Köpfen ganzer Völker den Gedanken festgesetzt hatte, Krieg sei ein Mittel, um Konflikte zu lösen - um jeden Preis? Roman Antonowitsch Lehmann ringt um seine Fassung. Er bemüht sich vergeblich um eine feste Stimme, als er sagt: »Bitte, kommt gesund wieder nach Hause. Alle beide.«
Robert Lehmann löst sich behutsam als erster aus der Umarmung. Noch nie hat er seinen Vater so aufgewühlt gesehen.
»Ich komme zurück!« verspricht er und versucht, dabei überzeugend zu klingen. Freundschaftlich reicht er auch Heinrich Bockelmann, der zu ihnen getreten ist, die Hand.
Heinrich sieht ihm fest in die Augen. »Kommt gesund zurück. Alle beide.« Und leise fügt er hinzu: »Gott gebe, daß dieser Irrsinn bald ein Ende findet und daß ihr euch niemals mit der Waffe in der Hand Aug in Aug gegenüberstehen möget!«
»Gott schütze den Zaren«
2. August 1914. Die Mittagssonne taucht St. Petersburg in fast unwirkliche Schönheit, in eine trügerische Illusion der Ruhe und des Friedens. Das herrschaftliche Weiß und Gelb der Prachtbauten erstrahlt würdevoll, das Gold der Ornamente, Kuppeln und Turmspitzen glitzert prunkvoll im unvergleichlichen Licht des nordischen Sommers. Das leicht aufgewühlte Wasser der Newa und
ihrer Kanäle malt tanzend leuchtende Muster auf die Fassaden der Häuser an ihren Ufern. Eine beinahe unheimliche Stille liegt über der Stadt.
Einsam bewegt sich eine Kutsche in gemessener Fahrt Richtung Nordosten durch die Morskaja uliza, holpert über Kopfsteinpflaster. Die Pferde schnauben. Heinrich Bockelmann lehnt sich für einen Moment zurück. Gern würde er die von der durchwachten Nacht müden Augen ein wenig schließen, doch er kann dem Anblick der von der flirrenden Sommersonne märchenhaft verzauberten Stadt nicht widerstehen und sieht aus dem Fenster. Für Augenblicke läßt er sich in den Bann der Zarenstadt mit dem deutschen Namen ziehen, der deutschesten Stadt aller russischen Städte, betrachtet sie wie zum ersten Mal, ihre Feingliedrigkeit, ihre herrschaftlichen Farben, ihre elegante Pracht, ihre zierlichanmutige, fast mediterrane Atmosphäre. Der friedliche Glanz läßt ihn für die Dauer eines befreiten Gedankens vergessen, was für ein grausamer Schatten seit wenigen Stunden auf dem Land und Heinrichs Seele lastet - um ihn mit dem nächsten beklommenen Atemzug wieder um so schmerzlicher daran zu erinnern.
Jeder Blick ein Abschiednehmen. Heinrich Bockelmann ahnt, daß er nicht zurückkehren wird. Er blickt auf seine Uhr. Ein schneller Entschluß. Sein Zug nach Moskau verläßt Sankt Petersburg frühestens in zweieinhalb Stunden. Wasja Kargaschwili ist mit dem Gepäck bereits vorausgefahren. Er hat noch Zeit. Er möchte das Winterpalais sehen. Ein letztes Mal. Ein plötzliches Bedürfnis, unreflektiert und zwingend, als könne er dort eine Antwort auf all die bohrenden und quälenden Fragen und seinen inneren Frieden wiederfinden. In guten Zeiten war er manchmal dort gewesen, hatte an den prunkvollen Festen bei Hofe teilgenommen, hatte seine beruflichen und persönlichen Kontakte gepflegt und allen Glanz einer Karriere auf der Siegerstraße der Zeit erlebt. Nun hatte das Blatt sich gewendet, und er fühlt, daß er diesen Ort noch einmal sehen muß.
Änderung der Route. Ein kleiner Umweg nur. Die Kutsche biegt in den Newskij Prospekt ein.
Plötzlich sind die Straßen voll Menschen. Je näher man dem Winterpalais kommt, desto dichter das Gedränge. Als hätten sie sich abgesprochen. Als sei plötzlich ganz Petersburg hier versammelt.
Als sei die Welt auf diesen Platz zusammengeschrumpft. Die Polizei des Zaren zeigt Präsenz, ohne einzugreifen. Man läßt die Massen gewähren.
Heinrich Bockelmann erwägt umzukehren, beunruhigt
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