Der Mann mit dem goldenen Colt
Düsenjets den Platz anfliegen können, und für die Bequemlichkeit der Passagiere war dabei wenig übriggeblieben. James Bond war vor einer Stunde mit einem BWIA-Flug aus Trinidad angekommen, nun mußte er zwei Stunden auf seinen Anschluß nach Havanna warten. Er hatte Jackett und Krawatte ausgezogen und sich auf eine harte Bank gesetzt. Düster betrachtete er den Kiosk mit seinen teuren Parfüms, Likören und kitschigen Andenken.
Er hatte im Flugzeug zu Mittag gegessen, Drinks konnte er jetzt keine bekommen, und es war zu heiß und zu weit, um ein Taxi nach Kingston hinein zu nehmen, selbst wenn er es gewollt hätte.
Er wischte sich mit dem bereits schweißgetränkten Taschentuch über Gesicht und Hals und fluchte leise. Nur zwei weitere Fluggäste saßen in der »Halle«, vielleicht Kubaner, mit Palmenfasergepäck. Ein Mann und eine Frau. Sie saßen nahe beieinander an der gegenüberliegenden Wand und starrten gebannt auf James Bond. Die beklemmende Atmosphäre verstärkte sich intensiv.
Bond stand auf und ging zu dem Laden hinüber.
Er kaufte einen Daily Gleaner und setzte sich wieder.
Der Gleaner war wegen der inkonsequenten und gelegentlich bizarren Auswahl seiner Nachrichten eine der Lieblingszeitungen Bonds. Fast die ganze Titelseite dieses Tages war dem neuen Gesetz gewidmet, das den Konsum, den Verkauf und den Anbau von Ganja, der ortsüblichen Form von Marihuana, verhüten sollte. Die sensationelle Tatsache, daß de Gaulle soeben seine diplomatische Anerkennung Rotchinas verkündet hatte, war ganz unten auf die Seite verbannt worden.
Bond las die ganze Zeitung - »Lokalnachrichten« und alles übrige - mit der minuziösen Sorgfalt der Verzweiflung. Sein Horoskop verkündete:
»NUR MUT! Der heutige Tag wird eine angenehme Überraschung bringen und die Erfüllung eines langgehegten Wunsches. Aber Sie müssen Ihr Glück verdienen, indem Sie nach der goldenen Möglichkeit eifrig Ausschau halten und, wenn sie sich zeigt, mit beiden Händen zugreifen.« Bond lächelte grimmig. Es war unwahrscheinlich, daß er an seinem ersten Abend in Havanna gleich auf Scaramangas Spur stoßen würde. Es war nicht einmal sicher, daß Scaramanga überhaupt dort war. Es war eine letzte Chance. Seit sechs Wochen hatte Bond seinen Mann quer durch die Karibik und Mittelamerika verfolgt. In Trinidad hatte er ihn um einen Tag verpaßt und in Caracas nur um ein paar Stunden. Jetzt hatte er sich etwas widerwillig entschlossen, ihn in seiner Heimat aufzustöbern, die Bond kaum kannte.
Er hatte sich aber jedenfalls in Britisch-Guayana mit einem Diplomatenpaß ausgerüstet und war nun der »Kurier« Bond mit wundervoll gedruckten Instruktionen von Ihrer Majestät, die jamaikanische Diplomatentasche in Havanna abzuholen und mit ihr zurückzukehren.
Er hatte sich sogar ein Exemplar des berühmten Silbernen Windhundes ausgeborgt, dem Abzeichen der britischen Kuriere seit dreihundert Jahren.
Wenn er seinen Auftrag erledigen konnte und dann ein paar hundert Meter Vorsprung gewann, würde ihm das wenigstens Zuflucht in der britischen Gesandtschaft verschaffen.
Wenn er seinen Mann finden konnte.
Wenn er seine Instruktionen ausführen konnte.
Wenn er lebend vom Schauplatz der Schießerei entkommen konnte.
Wenn, wenn, wenn . . .
Bond kam zu den Anzeigen auf der letzten Seite. Sofort fiel ihm eine auf. Sie war so typisch Alt-Jamaika. Er las folgendes:
ZUM VERKAUF DURCH VERSTEIGERUNG 77 Harbour Street, Kingston am MITTWOCH, 28. MAI,
um 10.30 Uhr vormittags laut Verkaufsvollmacht aus der Hypothek von Cornelius Brown et ux Liebesstraße No. 3%
SAVANNAH LA MAR
Beinhaltend das umfangreiche Wohnhaus sowie das ganze Grundstück laut Vermessung drei Ketten und fünf Ruten an der Nordgrenze, fünf Ketten und eine Rute an der südlichen Grenze, zwei Ketten genau an der Ostgrenze und vier Ketten und zwei Ruten an der Westgrenze angrenzend im Norden an Liebesstraße No. 4
C. D. ALEXANDER CO. LTD. 77 HARBOUR STREET KINGSTON TELEFON 4897
James Bond war entzückt. Er hatte viele Aufträge in Jamaika gehabt und viele Abenteuer auf der Insel erlebt. Die wunderschöne Adresse und das ganze Vermessungszeug mit Ketten und Ruten und der altmodische Klimbim am Ende der Anzeige brachte ihm den Duft einer der ältesten und romantischsten der ehemaligen britischen Besitzungen zurück. Er wollte seinen letzten Dollar verwetten, daß trotz der neuerrungenen »Unabhängigkeit« die Statue der Königin Viktoria im Zentrum von Kingston nicht zerstört oder
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