Der Mann mit den hundert Namen
Und es würden dann nicht Scharfschützen im Hinterhalt liegen, um sie bei der ersten Gelegenheit abzuknallen. Nein, zweifellos schwebte Juana in Gefahr. Gerade wenn sie sich für längere Zeit im Ausland befand, hätte sie es nicht versäumt, ab und zu ihre Eltern anzurufen. Schon gar nicht ein Dreivierteljahr lang. Jedenfalls nicht freiwillig.
Am Ende jeder Akte stieß Buchanan auf Kopien von ausgestellten Rechnungen und eingegangene Schecks. Juanas Tätigkeit war ziemlich erfolgreich gewesen, die Honorare reichten von fünftausend Dollar für Beratungen bis zehntausend Dollar für einen zweiwöchigen Einsatz als Bodyguard oder hunderttausend Dollar für zwei Monate in Argentinien. Im letzten Fall war es, wie einer angehefteten Notiz zu entnehmen war, sogar zu einer Schießerei gekommen. Nach überschlägiger Berechnung verdiente sie ungefähr eine halbe Million Dollar im Jahr. Dabei lebte sie so einfach und seltsamerweise auch ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen. Was hatte sie mit ihrem Geld gemacht, hatte sie es gespart oder investiert und sich vorgenommen, mit etwa fünfunddreißig Jahren aufzuhören? Buchanan konnte nur raten. Er durchsuchte das Büro, fand jedoch kein Sparbuch, keine Kontoauszüge oder einen anderen Hinweis, wo und wie sie ihr Vermögen angelegt hatte. Da er weder im Briefkasten noch auf dem Couchtisch Post gefunden hatte, hob entweder das Postamt die Sendungen auf oder ihre Eltern hatten sie abgeholt.
Mit einem Mal begann das Zimmer sich um ihn zu drehen, Buchanans Beine gaben nach, so daß er sich erschöpft auf den Wippsessel gleiten ließ und die pochenden Schläfen rieb. Die Stichverletzung schmerzte ebenso wie die fast verheilte Wunde an der Schulter, und die Naht juckte.
Die Unterlagen, dachte er. Wer so in die Enge getrieben war, daß er Juana töten wollte, hätte ihr Heim in der Hoffnung durchsucht, einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort zu finden. Wenn sie sterben sollte, weil sie zuviel wußte, dann hätte man nach Papieren geforscht, die Rückschlüsse auf die Täter zuließen, und sie vernichtet.
Ein Name beginnt mit D, ein zweiter mit T. Buchanan lehnte sich zurück, der Sessel knarrte. Die einzelnen Seiten sahen wie Computerausdrucke aus, also könnte das ganze Archiv im Computer gespeichert sein. Plötzlich merkte er, daß das Knarren nicht vom Sessel, sondern aus dem Flur kam.
15
Buchanan drehte langsam den Kopf.
Ein Mann stand in der Tür, Mitte Dreißig, etwa ein Meter fünfundsiebzig groß und siebzig Kilo schwer. Das rotblonde Haar war kurz geschnitten. Das Gesicht entsprach dem schlanken Körperbau eines Joggers. Er trug Cowboystiefel, Jeans, ein verblichenes Jeanshemd und eine entsprechende Jacke, die ihm etwas zu groß war und seine Schlankheit betonte.
»Haben Sie gefunden, was Sie wollen?« Der Akzent des Oststaatlers wollte nicht zu seiner Aufmachung als Cowboy passen.
»Noch nicht.« Buchanan nahm die Hände vom Kopf. »Ich muß noch da und dort suchen.«
Nachdem ich eingedrungen war, dachte er, habe ich die Haustür verriegelt. Niemand ist mir gefolgt. Wie ist der …? Der Schweinehund hat nicht draußen aufgepaßt, sondern hat sich irgendwo im Haus versteckt.
»Wo zum Beispiel haben Sie noch nicht gesucht?«
»In der Datei.«
»Na, lassen Sie sich nicht stören.«
»Okay.« Buchanan drückte auf die Taste ON.
Als der Computer zu summen begann, sprach der Mann wieder. »Sie sehen verdammt schlecht aus, Kumpel.«
»Habe ein paar schwere Tage gehabt. Mir fehlt vor allem Schlaf.«
»Hier herumzuhängen ist auch beschissen. Warten, immer nur warten. Dort habe ich mich hingehauen.« Er deutete auf das nächste Zimmer. »Zum Fürchten. Kein Wunder, daß die Frau es verschlossen hielt. Vermutlich sollten die Eltern nicht sehen, was drin ist. Zuerst habe ich gedacht, es sind Körperteile.«
»Körperteile?« Buchanan war verwirrt.
»Das Zeug in dem Zimmer. Wie in einem Horrorfilm. Verdammt schräg. Hat Ihnen das keiner gesagt?«
Wovon redet der Kerl bloß? dachte Buchanan. »Wahrscheinlich meinten sie, es ist nicht wichtig. Sie haben nur die Akten erwähnt.«
»Der Computer ist bereit.«
»Richtig.« Buchanan wollte den Killer nicht aus den Augen lassen, doch blieb ihm keine andere Wahl. Denn wenn er sich nicht um seinen Job kümmerte, würde der andere noch mißtrauischer werden, als er es ohnehin war.
Der Cursor blinkte auf dem Bildschirm auf: Der Benutzer wurde aufgefordert, das gewünschte Programm zu wählen.
»Wie ist Ihr Name?« wollte
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