Der Mann mit den hundert Namen
Killer zunächst geglaubt hatte, eshandle sich um Körperteile. Überall, eine Ecke ausgenommen, wo eine Matratze lag, standen Tische mit Gegenständen, die Nasen, Ohren, Kinnen, Wangen, Zähnen und Stirnen ähnelten, und überall waren Spiegel mit Lichtleisten angebracht. Auf einem Tischchen türmten sich Perücken in verschiedenen Farben und mit unterschiedlichen Frisuren, auf einem anderen mehrere Make-up-Sets. Und was man für Körperteile halten konnte, waren prothesenähnliche Gebilde, wie sie in der plastischen Chirurgie für die Rekonstruktion verletzter Gesichter benutzt wurden.
Juana hatte ähnlich gearbeitet wie er, nur mit dem Unterschied, daß er neue Identitäten annahm, während sie sich neue Gesichter modellierte. Er selber war mit Verkleidungen nie gut zurechtgekommen, was nicht bedeutete, daß er sich nicht manchmal einen Bart stehen ließ, Kontaktlinsen benutzte, die die Farbe seiner Augen veränderten oder die Frisur wechselte. Wenn seine Vermutungen zutrafen, hatte Juana bei jedemAuftrag nicht nur ihre Persönlichkeit, sondern ihr Äußeres völlig verwandelt, nicht bloß die Kleidung, sondern auch Gesichtszüge, Gewicht und Größe. Er fand Einlagen, die ihre Brust üppiger erscheinen ließen oder ihr das Aussehen einer Schwangeren verliehen. Da standen geschickt gearbeitete Turnschuhe mit Spezialeinlagen und Make-up, mit dem sie ihre Hautfarbe aufhellen konnte.
Juana hatte ihn übertrumpft – sie war die perfekte Verwandlungskünstlerin. Auf seinem Gang durch das Haus fand er es enttäuschend und befremdend, nirgendwo ein Bild von ihr zu sehen. Er wäre so gern an ihre braunen Augen, an das glänzende schwarze Haar und das ungewöhnlich schöne Gesicht erinnert worden. Er wurde den Verdacht nicht los, daß die Verfolger alle Fotos an sich genommen hatten, um sich die Suche nach ihr zu erleichtern. Sollte das zutreffen, dann wären auch die Bilder keine große Hilfe, weil es von Juana kein verläßliches Konterfei gab. Und ihn beschlich die fürchterliche Gewißheit, daß die Frau, in die er (oder Peter Lang oder wer immer er war) sich verliebt hatte, so wenig greifbar war wie ein Phantom. Genau wie er. Trotzdem mußte er Juana aufspüren.
18
Er machte das Fenster im Büro zu und wischte mit dem Taschentuch die Fingerabdrücke von allem ab, was er berührt hatte. Er löschte sämtliche Lichter und schloß nach einem letzten prüfenden Blick den Vordereingang mit dem Dietrich wieder ab. Wenn der Komplize des Killers zur Ablösung eintraf, würde er nicht gleich begreifen, was sich abgespielt hatte. Der Bericht an seine Bosse würde verworren klingen und das Durcheinander verstärken, das durch das Verschwinden der beiden Scharfschützen vor dem Haus der Eltern entstanden war. Nur soviel war sicher: Juanas Feinde wußten, daß ein Mann namens Brendan Buchanan bei den Eltern gewesen war, und daraus ergab sich, daß er für die Ereignisse dieses Abends verantwortlich gemacht werden würde. Morgen früh, dachte er, werden sie Jagd auf mich machen. Nein, sie werden Brendan Buchanan jagen. Wenn ich Glück habe, wird es eine Weile dauern, bevor sie merken, daß ich Charles Duffy geworden bin.
Er klopfte auf die Brieftasche, die er dem Toten abgenommen und eingesteckt hatte, stieg in den Jeep Cherokee und fuhr rückwärts auf die dunkle Straße. Nach zwei Kilometern stieß er auf den Lieferwagen, der in einer nebligen Senke stand. Die Hand auf dem Rücken, damit er im Notfall schnell die Pistole ziehen konnte, stieg er aus. Im Nebel nahm er eine Bewegung wahr, sah gespannt hin und war erleichtert, als er Anita erkannte. Sie berichtete, daß Pedro im Lieferwagen bei den beiden gefesselten Gangstern saß.
»Das Telefon hat mehrmals geklingelt.«
»Ich weiß«, sagte Buchanan.
»Wir haben nicht abgenommen, weil es nicht unser Zeichen war.«
»Das war richtig.« Buchanan atmete auf, nachdem er sich vergewissert hatte, daß bei den Gefangenen alles in Ordnung war. »Haben Sie Juana gefunden?« fragte Pedro. »Nein.«
»Dann war das alles zwecklos. Was machen wir nun?«
»Lassen Sie mich mal mit den beiden Männern allein. Setzen Sie sich zu Ihrer Frau in den Jeep.«
»Warum?« Pedro wurde mißtrauisch. »Wenn Sie die Burschen nach Juana fragen wollen, dann will ich dabeisein.«
»Nein, manchmal ist es besser, wenn man etwas allein tut.
Lassen Sie mich mit den Männern allein.« Zögernd verließ Pedro den Lieferwagen. Buchanan vergewisserte sich, daß die Mendez’ im Jeep Platz nahmen, und
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