Der Mann mit den hundert Namen
links liegen ließ und sich nur die Fotos von Regierungsbeamten an der Wand betrachtete. Er deutete auf eine Aufnahme, die auch Holly aufgefallen war: ein schlanker Lateinamerikaner mit Hakennase in den frühen Vierzigern.
»Das ist er«, sagte Holly.
Buchanan wandte sich an eine junge Verkäuferin und deutete auf das Bild. »Bitte, wie heißt dieser Herr?«
»Welcher? Der? Das ist Esteban Delgado, der Innenminister.«
»Gracias«, bedankte sich Buchanan. Beim Kauf eines Buches stellte er noch weitere Fragen und hatte fünf Minuten später, als sie das Geschäft verließen, erfahren, daß der Mann, der Maria Tomez vergewaltigt und ermordet hatte, nicht nur Innenminister war. Er war der zweitmächtigste Mann in Mexiko, der nächste Präsident, wie jedermann wußte.
»Ein Strolch wie Delgado würde alles drum geben, den Videofilm geheimzuhalten. Die Frage ist nur: Was braucht Drummond?«
»Und was ist aus Juana Mendez geworden?«
»Ja. Es geht letztlich um Juana.«
Der Name tat weh, genau wie das damit angedeutete »Und nicht um dich«.
»Dulde mich nicht nur«, bat Holly. »Nimm mich nicht bloß mit, weil du fürchtest, ich arbeite gegen dich. Ich bin nicht dein Feind. Ich möchte dir helfen.«
2
»Mein Name ist Ted Riley«, stellte Buchanan sich vor. Sie standen in einem mit Teppichen ausgelegten, holzgetäfelten Büro, an dessen Tür die Aufschrift MINISTRO DE ASUNTOS INTERIORES leuchtete. Eine grauhaarige Sekretärin mit Brille nickte und wartete.
»Ich bin der Dolmetscher von Señorita McCoy«, fuhr er fort und deutete auf Holly. »Wie Sie aus ihren Papieren ersehen können, ist sie Reporterin der ›Washington Post‹. Sie ist für kurze Zeit in Mexico City, um wichtige Regierungsbeamte zu interviewen und von ihnen zu hören, wie die Vereinigten Staaten von Amerika die Beziehungen zu Ihrem Land verbessern können. Wenn es möglich wäre, daß Señor el Ministro etwas Zeit für uns erübrigt? Wir wären Ihnen sehr verbunden.«
Die Sekretärin war voller Verständnis und drückte mit einer freundlichen Geste ihr Bedauern aus. »Señor Delgado wird diese Woche nicht mehr im Büro erwartet.«
Enttäuscht seufzte Buchanan. »Vielleicht könnte er uns an seinem jetzigen Aufenthaltsort empfangen. Die Zeitung, für die Señorita McCoy arbeitet, hält seine Ansichten für besonders wichtig. Wie überall bekannt, wird er wahrscheinlich der nächste Präsident sein.«
Die Sekretärin überlegte, sah Holly prüfend an und nickte. »Einen Augenblick, bitte.«
Sie verschwand in einem Raum nebenan, Buchanan und Holly sahen sich an.
Die Sekretärin kam nach drei Minuten wieder. »Señor Delgado hält sich in seinem Haus in Cuernavaca auf, eine Autostunde von hier. Ich beschreibe Ihnen den Weg. Der Minister lädt Sie zum Lunch ein.«
3
»Darf ich dich etwas fragen?«
Holly wartete auf eine Antwort, doch er konzentrierte sich ganz auf die Insurgentes-Sur-Autobahn, die nach Süden führte. »Jetzt kehrst du wohl wieder die Reporterin heraus«, sagte er schließlich kalt.
»Hör doch endlich auf, so ablehnend zu sein! Wie oft soll ich es dir noch sagen: Ich stehe auf deiner Seite, ich will dich nicht ins Verderben stürzen. Ich …«
»Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe mir nämlich von einem gewissen Augenblick an keine Mühe mehr gegeben, dich zu manipulieren.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich habe mich nicht verstellt. Bei dir machte ich eine Zeitlang eine für mich völlig neue Erfahrung – ich habe keine Rollen mehr gespielt. Ohne es zu merken, wurde ich jemand, den ich ganz vergessen hatte: ich selbst. Ich bin dir als Brendan Buchanan gegenübergetreten.« Das klang bitter.
»Mag sein, daß ich mich deshalb zu dir hingezogen fühlte.«
Buchanan reagierte spöttisch. »Ich bin aber die einzige meiner Identitäten, die ich nicht mag.«
»Und jetzt weichst du dir selber aus, indem du wieder Peter Lang wirst, der nach Juana sucht?«
»Nein«, antwortete er. »Seit ich dich kenne, wurde mir Peter Lang immer unwichtiger. Juana ist wichtig, weil … In Key West habe ich dir gesagt, daß ich über meine Zukunft nicht entscheiden kann, bevor ich nicht meine Vergangenheit bewältigt habe.« Endlich sah er sie an. »Ich bin kein Idiot. Ich weiß, daß ich nicht sechs Jahre zurückdrehen und wieder da anfangen kann, wo ich mit ihr aufgehört habe. Mein Leben ist wie ein Stapel Schachteln, die nichts miteinander zu tun haben. Ich muß sie verbinden, ich möchte …«
Er zögerte, und Holly
Weitere Kostenlose Bücher