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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Morrell
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Sie?«
    »Sie haben mich Buchanan genannt. Buchanan, den habe ich vergessen. Ich kenne ihn nicht. Bei diesem Einsatz heiße ich Ed Potter. Nein, falsch. Ich bin nicht mehr Ed Potter. Ich bin … Sagen Sie mir, wer ich bin. Welche Identität habe ich jetzt? Welchen Background? Womit verdiene ich mein Geld? Bin ich verheiratet? Verdammt, so reden Sie doch schon.«
    Mit Flüchen, Beschimpfungen und Befehlen zwang Buchanan Wade, die Wunde mit der gebogenen Nadel zuzunähen. Bei jedem Einstich preßte er die Zähne fester aufeinander, bis ihm der Kiefer weh tat und er um sein Gebiß fürchtete. Einzig und allein die Notwendigkeit einer neuen Identität bewahrte ihn davor, die Besinnung zu verlieren. Er erfuhr, daß er Victor Grant aus Fort Lauderdale, Florida, war. Er baute Kajütboote und Jachten um und war auf den Einbau von Elektronik spezialisiert. In Cancún hatte er sich aufgehalten, um mit einem Kunden zu sprechen. Wenn nötig, konnte er dessen Namen und Anschrift nennen, denn er war Mitarbeiter von Buchanans Behörde.
    »Okay«, sagte Wade. »Es sieht ziemlich beschissen aus, aber es wird schon halten.«
    »Streichen Sie antibiotische Salbe auf eine Mullkompresse und legen Sie diese fest auf die Naht. Befestigen Sie die Kompresse mit einer Binde und kleben Sie Heftpflaster darüber.« Buchanan ächzte vor Schmerzen, seine Muskeln waren verkrampft. »Gut. Nun lösen Sie die Knebelpresse.«
    Das Blut begann wieder zu strömen. Die Gefühllosigkeit ließ nach, die Schmerzen wurden dadurch noch schlimmer. Er nahm sich vor, sie, so gut es ging, zu ignorieren. Sollte jedoch die Naht nicht halten und die Wunde wieder aufplatzen, brauchte er sich über seine neue Identität keine Gedanken mehr zu machen. Oder über die Ankunft am Flughafen von Merida, wenn das Phantombild dort bereits vorlag. Diese Probleme wären bedeutungslos, weil er nämlich zu diesem Zeitpunkt vollends verblutet wäre.
    Er starrte auf den Verband – es kam kein Blut durch. »Okay, fahren wir weiter.«
    »Es wird auch Zeit. Von hinten nähern sich Lichter.« Wade schloß den Verbandskasten, knallte Buchanans Tür zu, setzte sich in fliegender Eile ans Steuer und fuhr auf die Straße, bevor die Wagen angekommen waren.
    Buchanan lehnte den Kopf zurück und atmete rasselnd. Er hatte einen ganz trockenen Mund. »Haben Sie etwas zu trinken?«
    »Tut mir leid. Ich habe nichts mitgebracht.«
    »Tolle Leistung.«
    »Vielleicht ist ein Laden offen, wo wir was kaufen können.«
    »Bestimmt.«
    Buchanan starrte durch die Windschutzscheibe und folgte den Strahlenkegeln der Scheinwerfer ins Dunkel. Ständig wiederholte er im stillen: Ich heiße Victor Grant, aus Fort Lauderdale, Bootsbauer, Elektronik, geschieden, keine Kinder. Dichter Tropenwald säumte zu beiden Seiten die schmale Straße. Manchmal bemerkte er Gruppen von Hütten, mit Palmwedeln bedeckt, und wußte, daß sie von Maya-Indianern bewohnt wurden, von Menschen mit breiten Gesichtern, hohen Wangenknochen und der Augenwinkelfalte ihrer Vorfahren, jenen Schöpfern bedeutender Bauten in Chichén Itzá und in anderen alten Städten, die nun auf der Halbinsel Yucatán verkamen. Vor allem fiel ihm auf, daß, sooft sie sich einem Dorf näherten, ein Straßenschild mit der Aufschrift TOPE – Langsam fahren – stand. Dann ruckte der Wagen jedesmal über eine Stoppschwelle und schleuderte Buchanan so heftig hin und her, daß die Schmerzen in Kopf und Schulter unerträglich wurden. Victor Grant. Fort Lauderdale. Vergnügungsboote. Elektronik … Victor Grant, Victor Grant, Victor …
    Buchanan verlor die Besinnung.

5
 
    Obwohl Hochnebel das Licht von Mond und Sternen verhüllte, war es für Balam-Acab nicht schwer, sich nachts durch den Regenwald zu bewegen. Seine Geschicklichkeit war vor allem darauf zurückzuführen, daß er hier geboren wurde. Er fand den Weg zwischen den engstehenden Bäumen und Lianen auch deshalb so gut, weil er durch die dünnen, leichten Sandalen die Trittsteine spürte, die vor tausend Jahren einen fortlaufenden Pfad gebildet hatten, den die Menschen damals sacbe – »weiße Straße« – nannten. Es war einst eine ebene Straße von fast fünf Metern Breite und annähernd hundert Kilometern Länge gewesen. Seit der Ausrottung so vieler Vorfahren von Balam-Acab hatte sich niemand mehr um die Erhaltung und Reparatur der Straße gekümmert. Der Regen der Jahrhunderte hatte die Steine unterspült, so daß sie verrutschten, und zu ähnlichen Folgen führten die hierzulande häufigen

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