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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Morrell
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Erdbeben und die wuchernde Vegetation. Nur ein Mann wie Balam-Acab, der mit dem alten Wissen vertraut und auf den Geist des Waldes eingestimmt war, konnte dem in tiefes Dunkel gehüllten Weg so sicher folgen.
    Indem er sich schrittweise vorantastete, unsichtbaren Bäumen auswich, in gebückter Haltung durch bloß erahnte Rankenvorhänge kroch und auf die kleinste Unebenheit des Bodens achtete, blieb Balam-Acab im Gleichgewicht. Und das mußte er unbedingt, denn wenn er hinfiel, konnte er die Arme nicht benutzen, um nach einem Halt zu suchen. An die Brust gedrückt, trug er ein kostbares Gefäß, das zum Schutz in eine weiche Decke gehüllt war. Unter den gegebenen Umständen hatte er es nicht gewagt, die Schale mit in den Rucksack zu packen, der gar zu oft einen Ast oder einen Baum streifte. Der Inhalt des Rucksacks war unzerbrechlich, nicht aber die Schale.
    Die Feuchtigkeit im Unterholz ließ ihm den Schweiß nur so über das Gesicht strömen, Baumwollhemd und Hose klebten am Körper. Der Dreißigjährige war nur etwa ein Meter sechzig groß, für die Männer seines Stammes charakteristisch. Obwohl kräftig, war er dünn, was auf das anstrengende Leben im Dschungel und die unzureichende Nahrung zurückzuführen war, die auf den Feldern des Dorfes wuchs.
    Da die Region so unzugänglich war und die spanischen Eroberer sich geweigert hatten, sich mit den Maya zu vermischen, wurden Balam-Acabs Züge von denselben genetischen Merkmalen geprägt wie die seiner Vorfahren auf dem Höhepunkt der Maya-Kultur vor Hunderten von Jahren: runder Schädel, breites Gesicht, hohe Wangenknochen, glattes, glänzend schwarzes Haar. Die wulstige Unterlippe war auffällig nach unten geschwungen, und die Lider der dunklen mandelförmigen Augen hatten eine Lidfalte.
    Balam-Acab wußte, wie er den geplanten Ritus zu vollziehen hatte, denn als Häuptling und Dorfschamane war ihm die Kenntnis von seinen Vorgängern überliefert worden. Sie hatten ihm die heiligen Geheimnisse offenbart, genau wie sie seinen Vorgängern offenbart worden waren. Und das reichte zurück auf das Jahr 13.0.0.0.0. 4 Ahau 8 Cumku , den Beginn aller Zeit.
    Der Pfad bog nach links, und er war fast am Ziel angekommen. Obwohl seine Bewegungen nahezu lautlos gewesen waren, mußte er sich jetzt noch vorsichtiger bewegen, mit der Eleganz des pirschenden Jaguars schleichen, denn bald erreichte er den Rand des Dschungels und dort, an der kürzlich geschlagenen Lichtung, standen Wachposten.
    Schon roch er ihre Ausdünstungen, den Tabakrauch und das Gewehröl. Mit geweiteten Nasenlöchern hielt er inne, um die Entfernung und die Richtung einzuschätzen. Gleich darauf ging er weiter, er mußte nun den alten verborgenen Pfad verlassen und sich weiter links halten. Seit die neuen Eroberer im Land waren, die Bäume fällten, den Fels mit Dynamit in die Luft jagten und den Boden für den Bau einer Start- und Landebahn planierten, wußte Balam-Acab, daß das von den Vorfahren prophezeite Unglück bald eintreten würde. Wie die früheren so waren auch die jetzigen Eroberer vorausgesagt worden, denn – das wußte Balam-Acab – die Zeit bewegte sich in Kreisen. Sie drehte sich, und jede Periode stand unter der Obhut eines Gottes.
    Balam-Acab fürchtete die Posten, gleichzeitig glaubte er jedoch an den Erfolg seines Vorhabens. Wenn die Götter nicht besänftigt werden wollten und unversöhnlich wütend waren, dann hätten sie ihn schon längst bestraft. Nie hätten sie ihm gestattet, so weit vorzudringen. Nur ein Liebling der Götter konnte in der Dunkelheit nicht von Schlangen gebissen werden, die in diesem Gebiet weit verbreitet waren. Bei Tageslicht konnte er die Schlangen sehen und ihnen ausweichen oder sie durch Geräusche fortscheuchen, aber bei Nacht? Das war unmöglich. Ohne den Schutz der Götter wäre er nicht auf flache Steine, sondern auf den Tod getreten.
    Auf einmal schien sich das Dunkel etwas zu erhellen. Balam-Acab hatte den Rand des Dschungels erreicht. Sich hinkauernd sog er den würzigen Duft des Waldes ein, der den sauren Schweißgeruch der Wachen überlagerte. Plötzlich zerteilte sich der Nebel, als sei unbemerkt eine Brise über die Lichtung gestrichen. Mond und Sterne leuchteten wieder, und bestürzt sah Balam-Acab, wie weit die Arbeit der Eindringlinge seit seinem letzten Besuch vor nur zwei Tagen gediehen war. Ein riesiges Waldstück war abgeholzt worden, so daß mit Büschen bestandene Erhebungen zum Vorschein kamen. Ohne Bäume, die die Sicht auf den

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