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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Morrell
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bereits eine neue Straße durch den Dschungel. Es mußte etwas getan werden, um dem Einhalt zu gebieten.
    Die Zeit bewegt sich kreisförmig, und genauso regelmäßig hatten sich die Maya immer wieder gegen ihre Unterdrücker erhoben. Ihrer Kultur beraubt und versklavt, hatten sie im siebzehnten Jahrhundert, dann im neunzehnten Jahrhundert und zuletzt zu Beginn unseres Jahrhunderts rebelliert. Jedesmal waren sie besiegt worden. Die Übriggebliebenen mußten sich in die entlegensten Teile des Dschungels zurückziehen, um der Verfolgung und den schrecklichen Krankheiten zu entgehen, die die Ankömmlinge eingeschleppt hatten.
    Und nun waren die Fremden wieder erschienen. Balam-Acab wußte, daß sie sein Dorf zerstören würden, wenn sie nicht daran gehindert wurden. Er stand hier, um den Göttern ein Opfer zu bringen, sie um ihren weisen Rat und ihre Hilfe zu bitten.
    Er hob das Messer. Das schwarze vulkanische Glas der Klinge besaß eine stilettähnliche Spitze, die er unter seine ausgestreckte Zunge führte. Er schloß die Augen, stieß mit der Rechten nach oben und stach zu. Das gelang ihm nur, weil er die Zunge mit den Zähnen festhielt, so daß das ungeschützte, glatte Fleisch nicht ausweichen konnte. Blut schoß aus dem Mund und spritzte ihm auf die Hand. Er zitterte.
    Trotzdem stieß er weiter. Erst als die Spitze die Zunge ganz durchbohrt hatte und die Zähne berührte, zog er sie heraus. Tränen strömten ihm aus den Augen, er verbiß sich einen Schmerzensschrei. Noch die Zunge festhaltend, legte er behutsam das Messer beiseite und nahm die Dornenschnur zur Hand. Wie seine Vorväter fädelte er sie in die Wunde und begann sie nach oben zu ziehen. Der erste Dorn erreichte schnell die Wunde, und obwohl er hängenblieb, zerrte Balam-Acab weiter und zwängte einen zweiten Dorn durch die Zunge. Und dann noch einen. Das Blut lief in Strömen über die Schnur und durchtränkte die Rindenstreifen, die an ihrem Ende in der Schale lagen.
    Der Sinn dieser rituellen Handlung bestand darin, durch Schmerz und Blut einen visionären Zustand zu erreichen, mit dem Jenseits in Verbindung zu treten und den Rat und die Befehle der Götter zu erfahren.
    Geschwächt sank Balam-Acab in die Knie, wie um die blutgetränkten Rindenstreifen in der Schale anzubeten. Sobald die Dornenschnur ganz durch die Zunge gezogen war, würde er sie in die Schale legen und eine Weihrauchkugel aus Kopalharz dazuwerfen. Dann würde er Streichhölzer nehmen – die einzige Verfälschung des Ritus, die er sich gestattete – und das Opfer anzünden, so daß die Flammen sein Blut kochten und schließlich verbrannten.
    In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Er schwankte und gab sich Mühe, eine ekstatische Balance zwischen Bewußtsein und Ohnmacht zu bewahren. Seine Vorväter übrigens hätten diesen Ritus nicht ohne Beistand vollzogen. Er dagegen würde sich aufraffen müssen, um allein durch den Dschungel ins Dorf zurückzukehren.
    Er glaubte, die Götter zu sich sprechen zu hören. Er fühlte ihre Nähe …
    Ein Beben durchzuckte ihn, doch es wurde nicht von Ekstase oder Schmerz verursacht. Die Druckwelle einer Sprengung hatte es ausgelöst, mit der die Arbeiter trotz der nächtlichen Stunde ihr Zerstörungswerk fortsetzten. Das Grollen klang wie das Stöhnen eines ungeduldigen Gottes.
    Balam-Acab zündete ein Streichholz an und ließ es auf die Rindenstreifen in der heiligen Schale fallen.
    Auch diese heilige Stätte wurde von den Eroberern entweiht.
    Sie mußten vernichtet werden.

Viertes Kapitel
     
    1
     
    Schweißgebadet und mit trockenen Lippen erwachte Buchanan. Er hatte Fieber und würgte einige Aspirin hinunter. Inzwischen war es Morgen. Er und Wade befanden sich in Merida, dreihundertzweiundzwanzig Kilometer westlich von Cancún. Anders als Cancún erinnerte Merida mit den um die Jahrhundertwende erbauten Herrenhäusern an die Alte Welt. Verständlich, daß die Stadt früher einmal das Paris Lateinamerikas genannt wurde. Merida besaß noch viel von seinem europäischen Charme, doch Buchanan fieberte zu sehr, um sich für die schattigen Boulevards und ihre Cafés zu interessieren. »Wie spät ist es?« wollte er wissen.
    »Acht Uhr.« Wade parkte in der Nähe eines noch geschlossenen Markts. »Haben Sie was dagegen, wenn ich Sie mal allein lasse?«
    »Wohin gehen Sie?«
    Buchanan hörte die Antwort nicht mehr. Er schlief schon wieder.
    Er erwachte erst, als Wade die Wagentür aufschloß und einstieg. »Tut mir leid, daß ich so lange

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