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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Morrell
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Horizont versperrten, erkannte man auch die düsteren Konturen beträchtlich höherer Hügel auf dem Terrain. Balam-Acab nannte sie Berge, und sie waren ein Teil des Weltgeists. Zugegeben, sie waren nicht natürlichen Ursprungs, denn dieses Gebiet von Yucatán wurde als Tiefland bezeichnet; Erhebungen und Hügel gab es nicht, ganz zu schweigen von Bergen. Sie alle waren vor über tausend Jahren von den Vorfahren Balam-Acabs erbaut worden. Obwohl das Unterholz die Treppen, Portale, Skulpturen und Reliefs überwuchert hatte, wußte Balam-Acab, daß sich darunter Paläste, Pyramiden und Tempel verbargen. Die alten Maya hatten ihre Kenntnis von den Geheimnissen der Sonne genutzt, um die besten Standorte für die zu Ehren der Götter errichteten Gebäude zu ermitteln. Bei ihrer Arbeit konzentrierten sie die Energie der Unterwelt und der Himmelsgötter auf diesen geheiligten Bereich.
    Wachsam gegenüber den bewaffneten Eindringlingen erreichte Balam-Acab die höchste Erhebung. Die Arbeiter hatten die Vegetation zu ebener Erde vernichtet, doch die Bodenerhebungen hatten sie noch verschont. Er prüfte die Sträucher und Schößlinge, denen es irgendwie gelungen war, Wurzeln zu schlagen zwischen den riesigen Steinquadern, aus denen das Gebäude einst errichtet worden war. Ohne die Bäume würde sich der vermeintliche Berg als eine gewaltige, terrassenförmig angelegte Pyramide entpuppen, auf deren Spitze ein Tempel stand. Er war dem Gott Kukulcán geweiht, dessen Name »Federschlange« bedeutet.
    Da ragte am Fuß der Pyramide das verwitterte steinerne Ebenbild eines gigantischen Schlangenkopfs, mit offenem Maul und entblößten Fängen aus den Sträuchern hervor. Es gab mehrere solcher Statuen. Sie flankierten die Treppen, die auf jeder Seite der Pyramide über die Terrassen nach oben führten. Froh darüber, unbehelligt so weit gekommen zu sein, und in der festen Überzeugung, daß die Götter sein Vorhaben billigten, hielt Balam-Acab die Opferschale an die Brust und begann mit dem Anstieg zur Spitze.
    Jede Stufe war kniehoch und der Steigungswinkel der Treppe beträchtlich. Bei Tageslicht konnte der Aufstieg schon schwindelerregend sein, denn mächtige Baumwurzeln und der Regen der Jahrhunderte hatten die Stufen gesprengt und die Quader verschoben. Die eigene Sicherheit war für ihn nicht wichtig, sonst wäre er das Risiko nicht eingegangen, von Schlangen gebissen oder von Wachtposten erschossen zu werden. Was ihn keinesfalls gleichgültig ließ, das waren die wertvollen Gegenstände in seinem Rucksack und vor allem die heilige Schale. Er durfte nicht fallen und sie zerbrechen. Denn das wäre unentschuldbar und würde mit Sicherheit den Zorn der Götter erregen.
    Endlich, mit schmerzenden Knien und wild klopfendem Herzen, erreichte er die obere Plattform des Tempels. Dreihundertfünfundsechzig Stufen über der Erde – diese Zahl symbolisierte die Tage im Sonnenjahr. Balam-Acabs Vorfahren hatten sie errechnet, lange bevor die Konquistadoren zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts in Yucatán einfielen. In den Bau der Pyramide waren noch andere heilige Zahlen der Maya eingegangen. Die zwanzig Terrassen zum Beispiel bedeuteten die Einheiten von jeweils zwanzig Tagen, in die das zweihundertsechzig Tage umfassende zeremonielle Jahr eingeteilt war.
    Behutsam stellte Balam-Acab die Tonschale ab und befreite sie von ihrer Umhüllung. Sie wirkte unscheinbar. Bei einem Durchmesser von etwa vierzig Zentimetern war sie daumendick und gewiß uralt, aber anstelle leuchtender Farben war sie bloß mit einer stumpfen, dunklen Schicht überzogen. Ein Weißer hätte sie wahrscheinlich häßlich genannt.
    Nicht länger durch den kostbaren Kultgegenstand behindert, nahm Balam-Acab nun den Rucksack von der Schulter, holte ein Messer mit Obsidianklinge, eine lange mit Dornen besetzte Schnur und Streifen aus Feigenbaumrinde heraus. Rasch zog er das durchgeschwitzte Hemd vom Leib und entblößte auf diese Weise die Brust vor dem Gott der Nacht.
    Balam-Acab stellte sich am Tempeleingang auf, das Gesicht gen Osten, wo die Sonne, das Symbol der Wiedergeburt, ihren täglichen Lauf begann. Von hier oben hatte er eine gute Aussicht über das Land. In kaum fünfhundert Metern Entfernung zu seiner Rechten machte er den Flugplatz aus, die vielen großen Zelte der Eindringlinge und die aus gefällten Bäumen errichteten Blockhäuser. Bald würden Flugzeuge weitere Eroberer und Maschinen einfliegen, und der Wald würde noch mehr geschändet. Bulldozer bauten

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