Der Mann mit den hundert Namen
Sie da, Buchanan?«
»Über meinen Namen. Zum ersten Mal seit acht Jahren benutzen ihn die Leute einfach so. Ich werde absichtlich bloßgestellt. Warum?«
»Ich habe es Ihnen gestern abend erklärt. Es ist Zeit, daß Sie mal ausspannen.«
»Deshalb braucht man doch die Grundregeln nicht zu verletzen.«
»Hören Sie, der Arzt ist kein Sicherheitsrisiko – er ist als unbedenklich eingestuft.«
»Die Regeln wurden unnötig verletzt. Auf keinen Fall mußte er für die Beurteilung meiner Gesundheit wissen, wer ich bin. Und er hat meine Schulterverletzung erwähnt, ohne sich die Schulter anzusehen. Von mir hat er es nicht erfahren. Was habt ihr ihm sonst noch erzählt? Wie ich zu der Wunde gekommen bin?«
»Natürlich nicht.«
»Diese Situation empfinde ich nicht als Entspannung. Ich bin nicht nur beurlaubt – ich werde abgehängt. Habe ich recht?«
Der andere fuhr auf die Überholspur.
»Ich habe Sie was gefragt. Werde ich abgehängt?«
»Nichts ist ewig, Buchanan.«
»Hören Sie auf, mich so zu nennen.«
»Wie sonst sollte ich Sie nennen? Wer glauben Sie, wer Sie sind?«
Buchanan wußte keine Antwort.
»Ein Agent mit Ihrem Talent und Ihrer Erfahrung würde einen tollen Ausbilder abgeben.«
Buchanan schwieg.
»Haben Sie erwartet, Ihr Leben lang als Geheimagent zu arbeiten?«
»Darüber habe ich nie nachgedacht.«
»Machen Sie mir nichts vor.«
»Aber es ist so. Ich habe tatsächlich nie darüber nachgedacht. Nie habe ich während eines Einsatzes darüber nachgegrübelt, wer ich bin. Wenn man als Agent Pläne für das Rentenalter schmiedet, fangen die Schwierigkeiten an. Da vergißt man, wer man angeblich ist. Man benimmt sich nicht rollengemäß, und das kann leicht dazu führen, daß man den Ruhestand gar nicht erst erreicht.«
»Na, dann denken Sie jetzt mal darüber nach.«
»Warum tut man mir das an? Ich habe nichts vermasselt. Mich trifft keine Schuld. Ich habe es wieder in Ordnung gebracht. Die Operation wurde nicht gefährdet.«
»Oh, aber es hätte Schlimmes passieren können.«
»Und auch das wäre nicht mein Fehler gewesen«, erwiderte Buchanan.
»Streiten wir uns nicht über Fehler. Sprechen wir über Tatsachen und mögliche Folgen. Vielleicht ist Ihre Glückssträhne zu Ende. Das Fazit lautet: Sie sind zweiunddreißig. In unserem Geschäft sind Sie damit als Senior abgestempelt. Acht Jahre? Mann, ein Wunder, daß Sie noch am Leben sind! Zeit, den Hut zu nehmen.«
»Die Tatsache, daß ich noch am Leben bin, beweist mein Format. Ich verdiene es nicht …«
Der Regen trommelte auf das Wagendach. Die Scheibenwischer flatterten lauter.
»Haben Sie schon mal Ihre Akte gesehen?«
Trotz der Schmerzen schüttelte Buchanan den Kopf.
»Wollen Sie sie sehen?«
»Nein.«
»Ihr psychologisches Porträt ist sehr aufschlußreich.«
»Bin nicht interessiert.«
»Sie haben eine ›dissoziative Persönlichkeit‹ – so bezeichnet man das.«
»Hören Sie nicht? Ich bin nicht interessiert.«
Alan wechselte wieder die Spur und behielt trotz des Regens die Geschwindigkeit bei. »Ich bin kein Psychologe, trotzdem hat die Akte mich überzeugt. Sie mögen sich selber nicht. Sie tun alles, um nicht in Ihr Inneres blicken zu müssen. Sie wären lieber ein anderer – ohne genau zu wissen, wer.«
Buchanan sah düster auf die vom Regen verschleierten Autos.
»Im Alltagsleben wäre das eine Belastung. Aber Ihre Ausbilder merkten, was für ein Glück sie hatten, als der Computer aus einer Übersicht Ihr Porträt aussuchte. Bereits in der High-School zeigten Sie Talent – einen unwiderstehlichen Drang, wäre zutreffender – zum Schauspielern. Und die Chefs der Special Operations Division in Fort Benning und Fort Bragg haben Ihnen tolle Noten für Ihre Kampfbereitschaft gegeben.«
»Hören Sie auf damit.«
»Sie sind der ideale Geheimagent. Kein Wunder, daß Sie acht Jahre lang die unterschiedlichsten Personen verkörpern konnten und daß Ihre Vorgesetzten glaubten, Sie könnten das durchhalten, ohne zusammenzubrechen. Das heißt, Sie sind ja in Ihrer Jugend bereits zusammengebrochen. Die Tätigkeit als Geheimagent war Ihre Heilmethode. Sie haben sich selber so sehr gehaßt, daß Sie für die Chance, Ihrem Ich zu entfliehen, alles erdulden, alles auf sich nehmen wollten.«
Ganz ruhig packte Buchanan Alan am rechten Ellbogen. Mit dem Mittelfinger fand er den gesuchten Nerv und drückte zu.
Der Mann schrie auf. Vor Schmerz zusammenzuckend, verlor er die Gewalt über den Wagen, die Hinterreifen
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