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Der Mann mit den hundert Namen

Der Mann mit den hundert Namen

Titel: Der Mann mit den hundert Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Morrell
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damals fünfzehn Jahre alt.
    Noch immer katatonisch verkrampft, saß er kerzengerade auf dem Sofa. Er hatte das Gefühl, als höbe ein Teil seines Bewußtseins die Arme und versuche, die schreckliche Erinnerung zurückzudrängen. Seit den Tagen und Nächten vor Tommys Beerdigung und seit dem furchtbaren Sommer waren ihm die Einzelheiten lange nicht mehr so gegenwärtig gewesen wie jetzt, jene schuldbeladene, scheinbar endlos lange Trauerzeit, die schließlich ein Ende fand, als …
    »Nur ich bin schuld.«
    »Nein, nein, du hast es ja nicht gewollt«, hatte ihn seine Mutter beruhigt.
    »Ich habe ihn getötet.«
    »Es war ein Unfall.«
    Buchanan hatte ihr nicht geglaubt, und sicherlich wäre er wahnsinnig geworden, wenn er nicht eine Möglichkeit gefunden hätte, sich vor seinen eigenen Gedanken zu schützen. Die Antwort schien denkbar einfach: Werde ein anderer.
    Dissoziative Persönlichkeit … Buchanan versetzte sich an die Stelle der von ihm bewunderten Sportler und Rockstars, von beliebten Film- und Fernsehschauspielern. Er begann Bücher zu lesen und verschlang Romane, um selber zu dem Helden zu werden, der wie in Trance über sich hinauswuchs. Im Herbst jenes Jahres schloß er sich in der High-School der Schauspielgruppe an, einzig und allein von dem Wunsch getrieben, die Fähigkeiten zu fördern, die er zur Aufrechterhaltung seiner Schutzrollen brauchte.
    Vielleicht zur Bewährung oder Selbstbestrafung oder sogar, um seinen frühen Tod heraufzubeschwören, wurde er nach dem Abschluß Soldat, aber nicht bei einer beliebigen Waffengattung, sondern es mußten die Special Forces sein. Der Name sagte alles – etwas Besonderes sein. Er wollte sich opfern, Buße tun. Und noch etwas: Wenn er genug vom Tod gesehen hatte, dann würde ihm der Tod vielleicht nicht mehr soviel bedeuten. Auch der Tod des Bruders womöglich nicht …
    Jetzt rissen sie ihm seine Maske ab, nahmen ihm den Schutzschild seiner Decknamenexistenz und entblößten die Schuld, die ihn gezwungen hatte, Agent zu werden.
    Buchanan? Wer zum Teufel war Buchanan? Jim Crawford war ein Mann, den er verstand. Genau wie Ed Potter und Victor Grant und all die anderen. Von ihnen wußte er, wie sie sich kleideten, welche Art Musik, welche Partei und welcher Frauentyp ihnen gefiel …
    Wer also war Buchanan? Es war auffällig, daß Buchanan und seine Vorgesetzten nur seinen Nachnamen gebrauchten. Unpersönlich. Objektiv. Nach acht Jahren, in denen er Hunderte von Menschen gespielt hatte – nein, gewesen war –, wußte Buchanan jetzt nicht, wie er sich selber darstellen sollte. Welche charakteristischen sprachlichen Wendungen benutzte er? Hatte er spezielle Vorlieben? Welche Art Kleidung, Essen und Musik bevorzugte er? War er religiös? Besaß er Hobbys? Lieblingsstädte? Was war ihm wichtig?
    Herrgott, er wollte gar nicht wissen, wer Buchanan war. Die Geschichte von dem Esel zwischen zwei Ballen Heu beschrieb sein eigenes Dilemma. Er war zwischen zwei Personen gefangen: zwischen Victor Grant, der tot war, und Don Colton, der noch nicht fertig war. Ohne eine ihm von der Befehlszentrale verpaßte Identität fühlte er sich wie gelähmt.
    Der Instinkt ständiger Wachsamkeit riß ihn aus seinen Gedanken. In dem stillen Raum hörte er das Kratzen eines Schlüssels an der Wohnungstür. Plötzlich war sein Körper nicht mehr kalt und taub. Die Teilnahmslosigkeit war verflogen, vom Adrenalin vertrieben.
    Während jemand im Flur langsam die Tür öffnete, so daß von draußen das grelle Neonlicht eindrang, war Buchanan bereits vom Sofa aufgesprungen. Mit wenigen Schritten verschwand er im dunklen Schlafzimmer. Ein Schalter klickte. Buchanan zog sich weiter zurück. Licht überflutete das Wohnzimmer. Dann ein metallisches Scharren, als der Schlüssel aus dem Schloß gezogen wurde. Vorsichtige, kurze Schritte schoben sich über den Teppichboden.
    Er straffte sich.
    »Buchanan?« Eine bekannte Stimme. Es war Alan, doch die Stimme klang wachsam, unruhig. »Buchanan?«
    Argwöhnisch geworden, wollte Buchanan auf diesen Namen nicht reagieren. Trotzdem zeigte er sich und war gleichzeitig bemüht, sich teilweise im Dunkel des Schlafzimmers zu halten.
    Alan wirbelte herum, auf seinem Gesicht spiegelten sich Besorgnis und Überraschung.
    »Halten Sie nichts von Läuten oder Anklopfen?« fragte Buchanan.
    »Sorry.« Alan fuhr sich verlegen mit der rechten Hand über das braunkarierte Sportsakko. »Ich dachte, Sie schlafen und …«
    »So haben Sie gedacht, Sie machen es sich

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