Der Mann mit den hundert Namen
schleuderten auf dem nassen, glatten Belag. Hinter ihnen und auf der Überholspur wichen andere Fahrer erschrocken aus und hupten laut.
»Einigen wir uns«, warnte ihn Buchanan. »Entweder Sie halten das Maul oder Sie merken, was passiert, wenn man bei neunzig Stundenkilometer die Gewalt über ein Fahrzeug verliert.«
Das Gesicht des anderen war aschfahl, der Mund weit geöffnet, und Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als er das Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bringen versuchte.
Er nickte.
»Gut«, sagte Buchanan. »Ich habe gewußt, daß wir uns verstehen.« Er löste den Griff und saß starr da, den Blick nach vorn geheftet.
Alan murmelte etwas.
»Wie?« fragte Buchanan, obwohl er wußte, was der andere gesagt hatte.
Und das alles wegen deines Bruders.
10
»Was tut er im Augenblick?« fragte Alan, als er die Wohnung betrat.
»Nichts«, antwortete der muskulöse Major. Er schlürfte Kaffee aus einem Styroporbecher und beobachtete die Monitoren. Er trug wieder Zivilkleidung.
»Na, etwas muß er doch machen.« Alan sah sich um – der Colonel und Captain Weller waren nicht anwesend.
»Nein«, sagte Major Putnam. »Nichts. Als er heimkam, dachte ich, er würde sich einen Drink eingießen, ins Bad gehen, lesen, fernsehen, Gymnastik treiben – irgendwas. Aber er ist bloß zum Sofa gegangen. Und da sitzt er, seit Sie sich verabschiedet haben. Regungslos.«
Alan näherte sich den Monitoren. Er rieb sich den rechten Ellbogen. Der Nerv, den Buchanan abgeklemmt hatte, schmerzte noch immer. Er beobachtete Buchanan. »Mein Gott.«
Buchanan saß kerzengerade, reglos, mit versteinerter Miene, den Blick auf einen vor ihm stehenden Stuhl gerichtet.
»Mein Gott«, wiederholte Alan. »Katatonisches Syndrom. Weiß der Colonel davon?«
»Ich habe ihn angerufen. Ich soll ihn weiter beobachten. Worüber haben Sie sich mit ihm unterhalten? Als er wiederkam, sah er …«
»Darüber unterhalten haben wir uns nicht, aber ich habe beiläufig seinen Bruder erwähnt.«
»Herrgott noch mal! Sie wissen doch, das Thema ist tabu.«
»Ich wollte ihn testen.«
»Nun, jetzt haben Sie die Reaktion.«
»Ich habe eigentlich eine ganz andere erwartet.«
11
Buchanan erinnerte sich an die alte Geschichte von dem Esel, der zwischen zwei Ballen Heu steht. Sie sind gleich groß und strömen den gleichen verführerischen Duft aus. Trotzdem verhungert der Esel, denn er sieht keinen Grund, den einen Ballen dem anderen vorzuziehen.
Die Fabel veranschaulicht das Problem der Willensfreiheit. Die Fähigkeit zu wählen, die von den meisten als selbstverständlich betrachtet wird, hängt von bestimmten Bedingungen ab, und sind diese nicht gegeben, so kann ein Mensch ohne jeden Antrieb sein, genau wie Buchanan im Augenblick.
Sein Bruder …
Buchanan hatte hart daran gearbeitet, die Erinnerung an ihn auszulöschen. In den letzten acht Jahren war es ihm gelungen, jenes bedeutsame Ereignis zu verdrängen, das sein Verhalten bestimmt hatte. Nur äußerst selten, wenn er sich spätabends schwach und müde fühlte, hatte wohl das Schreckgespenst im Dunkel seines Unterbewußtseins gelauert und darauf gewartet, ihn anzuspringen. Jedesmal hatte er mit ganzer Entschlossenheit in seinem Innern eine Mauer errichtet, um das Phantom zu vertreiben.
Jetzt, seines Rollenspiels beraubt, ohne Identität und ohne den Reiz einer neuen brenzligen Aufgabe, stiegen die sorgfältig verdrängten Erinnerungen wieder auf und versuchten, von seinem Bewußtsein Besitz zu ergreifen.
Sein Bruder. Tommy.
Zwölf Jahre alt.
War tot. Und er hatte ihn getötet.
Buchanan war zumute, als befände er sich in einem Eisblock. Er konnte sich nicht bewegen. Er saß auf dem Sofa, Beine, Rücken und Arme waren wie abgestorben, der ganze Körper kalt, wie gelähmt. Er starrte noch immer auf den Stuhl, ohne ihn wahrzunehmen, ohne Zeitgefühl.
Fünf Uhr. Sechs Uhr. Sieben Uhr.
Das Zimmer lag im Dunkeln.
Tommy war tot. Und er hatte ihn getötet.
Er hatte den durchbohrten Körper umklammert und loszureißen versucht. Tommys Wangen waren kreidebleich. Der Atem war blubbernd gekommen. Das Stöhnen klang wie Gurgeln. Es war …
Blut.
»Tut weh. Sehr weh.«
»Tommy, mein Gott, es tut mir leid. Das wollte ich nicht.«
Wollte nur herumalbern.
Dachte nicht, daß Tommy das Gleichgewicht verliert und in die Grube fällt. Wußte nicht, daß ein spitzer Pfahl darin steckt.
Eine Baugrube. An einem Sommerabend. Zwei Brüder auf der Suche nach Zeitvertreib.
Buchanan war
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