Der Mann mit der dunklen Maske
Frage von Ihnen genauso in Zweifel gezogen würde wie das eben Gesagte. Mir bleibt nur einzugestehen, dass mir gar nicht bewusst war, wie hungrig ich bin, und dass ich sehr gern mit Ihnen esse, während wir uns über die Situation meines Vormunds unterhalten.“
„Dann, meine Liebe …“, erklärte er und machte eine einladende Geste in Richtung des Stuhls.
Sie setzte sich.
Er ging um den Tisch herum, ließ sich auf seinem eigenen Stuhl nieder und hob die Glosche von ihrem Teller. Der Duft stieg ihr köstlich in die Nase. Auf dem Teller lagen goldgelbe Kartoffeln, ein Stück Braten, dessen Anblick ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, und zierliche Karotten. Seit ihrer Pause um zehn Uhr morgens hatte sie keinen Bissen mehr zu sich genommen, und selbst da war es nichts weiter als ein Brot mit Konfitüre gewesen.
„Findet das Essen Ihre Zustimmung, Miss Montgomery? Ziemlich gewöhnlich, fürchte ich, aber schnell gemacht“, fügte er noch hinzu.
„Ganz außergewöhnlich unter den gegebenen zeitlichen Umständen“, widersprach Camille höflich. Er wartete, dass sie begann, also nahm sie Gabel und Messer auf und trennte graziös ein Stückchen Fleisch von der Scheibe Braten ab. Es war so köstlich, wie der Duft verheißen hatte.
„Exzellent!“ versicherte sie.
„Ich bin froh, dass es Ihnen zusagt“, murmelte er.
„Was meinen Vormund angeht“, begann sie.
„Der Dieb, ja?“
Sie seufzte. „My Lord, Tristan ist kein Dieb. Ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, was ihn in diese Mauern geführt hat, aber er hätte keinen Grund gehabt, irgendetwas zu stehlen.“
„Sie sind also begütert?“ erkundigte er sich.
„Uns geht es jedenfalls nicht schlecht“, erwiderte sie.
„Also ist er nicht hergekommen, um ein bisschen Geld zu stehlen, sondern war auf der Suche nach etwas besonders Wertvollem.“
„Absolut nicht!“ protestierte sie. Ihr wurde bewusst, dass ihre Behauptung, kein Geld zu brauchen, ihn eher noch wütender und misstrauischer gemacht hatte.
„Lord Stirling“, sagte sie und bemühte sich, ihre Contenance zu bewahren, „Sie haben kein Recht zu behaupten, dass mein Vormund hierher gekommen ist, um Sie zu berauben. Er …“
„Nach seiner Aussage ist er irgendwie aus Versehen auf meinen Besitz geraten. Sie haben das Tor und die Mauer gesehen. Es ist ziemlich schwierig, aus Versehen darüber zu klettern. Meinen Sie nicht auch?“
Der Earl hatte untadelige Manieren. Trotz seiner Maske. Das Leder bedeckte Wangen und Nase, Mund und Kinn aber waren frei. Camille fragte sich plötzlich, wie er wohl unter der Maske aussah. Und wie sehr er wohl entstellt war, dass er glaubte, mit dem Leder seine Züge verdecken zu müssen.
Sein Ton war beiläufig, und fast wäre es ihm gelungen, sie zu beruhigen.
„Ich habe Tristan immer noch nicht gesehen. Sie haben es mir nicht gestattet“, erinnerte sie ihn. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ihn auf das Anwesen geführt hat. Ich weiß nur, dass ich ihn bald mit nach Hause nehmen muss. Und dass ich Ihnen schwören kann, dass es keinen Grund auf Gottes Erdboden gibt, warum er hätte stehlen sollen.“
„Sie sind selbst im Besitz eines größeren Vermögens?“ „Würde Sie das überraschen, Sir?“
Er legte sein Besteck hin und musterte sie. „Ja, durchaus. Ihr Kleid ist ganz entzückend, und es steht Ihnen sehr gut, aber es ist schon seit einigen Jahren aus der Mode. Sie sind nicht in Ihrer eigenen Kutsche gekommen, sondern in einer Mietdroschke, die übrigens zurück nach London geschickt worden ist.“
Sie verspannte sich. Sie würde Tristan hier so schnell wie möglich herausholen müssen, sonst würde sie ihren Job verlieren, den sie so nötig brauchte und so sehr liebte.
Sie legte ebenfalls das Besteck hin. „Vielleicht besitze ich kein riesiges Vermögen, Sir. Nicht in Ihrem Sinne. Aber es geht mir gut. Ich habe zwei gesunde Hände, ich arbeite, Sir, und bekomme ein wöchentliches Gehalt.“
Dichte Wimpern senkten sich über seine blauen Augen. Sie keuchte auf, als ihr bewusst wurde, dass er an eine ganz andere Beschäftigung dachte, als sie gemeint hatte.
„Wie können Sie es wagen, Sir“, zischte sie.
„Wie kann ich was wagen?“
„Das tue ich nicht.“
„Was tun Sie nicht?“
„Was Sie jetzt denken.“
„Und was tun Sie dann?“ hakte er nach.
„Sie sind nicht irgendeine mythische Kreatur, My Lord, sondern nur ein sehr ungehobelter Kerl“, erklärte sie und war im Begriff, ihre Serviette auf
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