Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
materiell und überhastet.
»Und ich dachte gerade, daß ich Sie beneiden könnte!« gab Ulrich zurück. »Der Beruf des Kaufmanns muß doch ein wahres Sanatorium der Seele sein! Zumindest ist er der einzige Beruf mit einer ideell sauberen Grundlage!«
»Das ist er!« bekräftigte Fischel. »Der Kaufmann dient dem menschlichen Fortschritt und begnügt sich mit einem erlaubten Nutzen. Er hat es dabei genau so schlecht wie jeder andere!« fügte er dunkel melancholisch hinzu.
Ulrich hatte sich bereit erklärt, ihn nach Hause zu begleiten.
Als sie dort eintrafen, fanden sie schon eine aufs äußerste gespannte Stimmung vor.
Alle Freunde hatten sich eingefunden, und es war eine große Wortschlacht im Gange. Diese jungen Leute besuchten noch das Gymnasium oder sie waren in den ersten Semestern der Hochschulen, einige von ihnen hatten auch eine Anstellung als Kaufleute. Wie ihr Kreis sich zusammengeschlossen hatte, wußten sie selbst nicht mehr. Von Mann zu Mann. Die einen hatten sich in nationalen Studentenverbindungen kennengelernt, andere in sozialistischen oder in der katholischen Jugendbewegung, dritte in einer Wandervogelhorde.
Man geht nicht ganz fehl, wenn man annimmt, daß das einzige ihnen allen Gemeinsame Leo Fischel war. Eine geistige Bewegung braucht, wenn sie dauern soll, einen Körper, und das war die Fischelsche Wohnung, samt Verpflegung und einer gewissen Regelung des Verkehrs durch Frau Klementine. Zu dieser Wohnung gehörte Gerda, zu Gerda gehörte Hans Sepp, und Hans Sepp, der Student mit dem unreinen Teint und der umso reineren Seele, war zwar nicht der Führer, weil die jungen Leute keinen Führer anerkannten, aber er war die stärkste Leidenschaft unter ihnen. Gelegentlich kamen sie wohl auch anderswo zusammen, und es hospitierten dann auch andere Frauen als Gerda; aber so, wie geschildert, war der Kern der Bewegung beschaffen.
Trotz alledem war es so merkwürdig, woher der Geist dieser jungen Leute kam, wie es das Auftreten einer neuen Krankheit oder das einer langen Trefferreihe im Glücksspiel ist. Als die Sonne des alten europäischen Idealismus zu verlöschen begann und der weiße Geist sich verdunkelte, wurden viele Fackeln von Hand zu Hand gereicht – Ideenfackeln; weiß Gott, wo sie gestohlen oder erfunden worden waren! – und bildeten da und dort den auf und nieder tanzenden Feuersee einer kleinen Geistesgemeinschaft. So war in den letzten Jahren, ehe der große Krieg die Folgerung daraus zog, unter jungen Menschen auch viel von Liebe und Gemeinschaft die Rede, und besonders die jungen Antisemiten im Haus des Bankdirektors Fischel standen im Zeichen alles umfassender Liebe und Gemeinschaft. Wahre Gemeinschaft ist das Wirken eines inneren Gesetzes, und das tiefste, einfachste, vollkommenste und erste ist das Gesetz der Liebe. Wie schon bemerkt worden, nicht Liebe im niederen, sinnlichen Sinn; denn körperlicher Besitz ist eine mammonistische Erfindung und wirkt nur trennend und entsinnend. Und natürlich kann man auch nicht jeden Menschen lieben. Aber vor eines jeden Charakter kann man Achtung haben, sofern er als wahrhafter Mensch strebt, unter strengster eigener Verantwortlichkeit. So stritten sie im Namen der Liebe gemeinsam über alles.
An diesem Tag aber hatte sich eine einige Front gegen Frau Klementine gebildet, die sich so gern noch einmal jung fühlte und innerlich zugab, daß die eheliche Liebe wirklich viel mit dem Zinsendienst eines Kapitals gemeinsam habe, aber keineswegs erlauben wollte, daß man über die Parallelaktion aburteile, weil die Arier nur dann fähig seien, Symbole zu schaffen, wenn sie rein unter sich sind. Frau Klementine hielt nur noch mit Mühe an sich, und Gerda hatte kreisrunde rote Flecken unter den Backen, vor Wut über ihre Mutter, die nicht zu bewegen war, das Zimmer zu verlassen. Als Leo Fischel mit Ulrich die Wohnung betreten hatte, machte sie Hans Sepp heimlich bittende Zeichen, daß er abbrechen möge, und Hans sagte versöhnlich: »Menschen unserer Zeit gelingt es überhaupt nicht, etwas Großes zu schaffen!« womit er die Sache auf eine unpersönliche Formel gebracht zu haben glaubte, an die man schon gewöhnt war.
In diesem Augenblick mischte sich aber Ulrich unglücklicherweise in das Gespräch und fragte Hans, mit ein wenig Bosheit gegen Fischel, ob er denn in gar keiner Weise an einen Fortschritt glaube?
»Fortschritt?!« antwortete Hans Sepp von oben. »Vergleichen Sie bloß, was für Menschen vor hundert Jahren dagewesen sind, ehe es
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