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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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logisch und formal zu erklären versucht hat, sozusagen als eine Selbstverständlichkeit; man hat im Gegensatz dazu auch behauptet, daß solche Regelmäßigkeit von Erscheinungen, die untereinander nicht ursächlich verknüpft seien, auf die gewöhnliche Weise des Denkens überhaupt nicht erklärt werden könne; und man hat, noch neben vielen anderen Analysen des Phänomens, die Behauptung aufgestellt, daß es sich dabei nicht nur um einzelne Ereignisse handle, sondern auch um unbekannte Gesetze der Gesamtheit. Ich will Ihnen mit den Einzelheiten nicht zusetzen, habe sie auch selbst nicht mehr gegenwärtig, aber ohne Zweifel wäre es mir persönlich sehr wichtig, zu wissen, ob dahinter unverstandene Gesetze der Gemeinschaft stecken oder ob einfach durch Ironie der Natur das Besondere daraus entsteht, daß nichts Besonderes geschieht, und der höchste Sinn sich als etwas erweist, das durch den Durchschnitt der tiefsten Sinnlosigkeit erreichbar ist. Es müßte das eine wie das andere Wissen auf unser Lebensgefühl doch einen entscheidenden Einfluß haben! Denn wie dem auch sei, jedenfalls ruht auf diesem Gesetz der großen Zahl die ganze Möglichkeit eines geordneten Lebens; und gäbe es dieses Ausgleichsgesetz nicht, so würde in einem Jahr nichts geschehen, während im nächsten nichts sicher wäre, Hungersnöte würden mit Überfluß wechseln, Kinder würden fehlen oder zu viele sein, und die Menschheit würde zwischen ihren himmlischen und höllischen Möglichkeiten von einer Seite zur andern flattern wie kleine Vögel, wenn man sich ihrem Käfig nähert.«
    »Ist das alles wahr?« fragte Gerda zögernd.
    »Das müssen Sie doch selbst wissen.«
    »Natürlich; im einzelnen weiß ich auch manches davon. Aber ob Sie das vorhin, als alle stritten, gemeint haben, weiß ich nicht. Was Sie über den Fortschritt sagten, klang bloß so, als ob Sie alle ärgern wollten.«
    »Das denken Sie immer. Aber was wissen wir über das, was unser Fortschritt ist; gar nichts! Es gibt viele Möglichkeiten, wie es sein könnte, und ich habe eben noch eine genannt.«
    »Wie es sein könnte! So denken Sie immer; nie werden Sie die Frage zu beantworten suchen, wie es sein müßte!«
    »Ihr seid so vorschnell. Immer muß ein Ziel, ein Ideal, ein Programm da sein, ein Absolutes. Und was am Ende herauskommt, ist ja doch ein Kompromiß, ein Durchschnitt! Wollen Sie nicht zugeben, daß es auf die Dauer ermüdend und lächerlich ist, immer das Äußerste zu tun und wollen, nur damit etwas Mittleres hervorkommt?«
    Im Grunde war es das gleiche Gespräch wie das mit Diotima; nur das Äußere war verschieden, aber dahinter hätte man aus dem einen in das andere fortfahren können. So offensichtlich gleichgültig war es auch, welche Frau da saß; ein Körper, der, in ein schon vorhandenes geistiges Kraftfeld eingesetzt, bestimmte Vorgänge in Gang brachte! Ulrich betrachtete Gerda, die ihm auf seine letzte Frage keine Antwort gab. Mager saß sie da, eine kleine Unmutsfalte zwischen den Augen. Auch der Brustansatz, den man im Blusenausschnitt sah, bildete eine hohle senkrechte Falte. Arme und Beine waren lang und zart. Schlaffer Frühling, durchglüht von vorzeitiger Sommerstrenge; diesen Eindruck empfing er, zugleich mit dem ganzen Anprall des Eigensinns, der in so einem jungen Körper eingesperrt ist. Eine sonderbare Vermengung von Abneigung und Gefaßtheit bemächtigte sich seiner, denn er hatte plötzlich das Gefühl, daß er näher an einer Entscheidung stehe, als er denke, und daß dieses junge Mädchen berufen sei, daran mitzuwirken. Unwillkürlich begann er nun wirklich von den Eindrücken zu erzählen, die er durch die sogenannte Jugend in der Parallelaktion empfangen hatte, und schloß mit Worten, die Gerda überraschten. »Sie sind auch dort sehr radikal und sie mögen mich dort auch nicht. Ich vergelte es aber mit gleichem, denn in meiner Art bin ich auch radikal, und ich kann jede Art Unordnung eher ausstehen als die geistige. Ich möchte Einfälle nicht nur entfaltet sehen, sondern auch zusammengebracht. Ich möchte nicht nur die Oszillation, sondern auch die Dichte der Idee. Das ist es, was Sie, unentbehrliche Freundin, mit den Worten tadeln, daß ich immer nur erzähle, was sein könnte, statt dessen, was sein müßte. Ich verwechsle diese beiden nicht. Und wahrscheinlich ist das die unzeitgemäßeste Eigenschaft, die man haben kann, denn nichts ist heute so fremd, wie es Strenge und Gefühlsleben einander sind, und unsere mechanische

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