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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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anvertrauen.«
    »Sie werden mich wieder anlügen!« versetzte Gerda.
    »So weit es möglich ist, nicht! Sie erinnern sich wohl aus den Kollegs, die Sie gehört haben, wie es in der Welt zugeht, wenn man wissen möchte, ob etwas ein Gesetz ist oder nicht? Entweder man hat von vornherein seine Gründe, daß es eines sei, wie zum Beispiel in der Physik oder Chemie, und wenn die Beobachtungen auch nie den gesuchten Wert ergeben, so liegen sie doch in einer bestimmten Weise um ihn herum und man berechnet ihn daraus. Oder man hat diese Gründe nicht, wie so oft im Leben, und steht vor einer Erscheinung, von der man nicht recht weiß, ob sie Gesetz oder Zufall ist, dann wird die Sache menschlich spannend. Denn dann macht man zunächst aus seinem Haufen von Beobachtungen einen Zahlenhaufen; man macht Abschnitte – welche Zahlen liegen zwischen diesem und jenem, dem nächsten und dem übernächsten Wert? und so weiter – und bildet daraus Verteilungsreihen; es zeigt sich, daß die Häufigkeit des Vorkommens eine systematische Zu- oder Abnahme hat oder nicht; man erhält eine stationäre Reihe oder eine Verteilungsfunktion, man berechnet das Maß der Schwankung, die mittlere Abweichung, das Maß der Abweichung von einem beliebigen Wert, den Zentralwert, den Normalwert, den Durchschnittswert, die Dispersion und so weiter und untersucht mit allen solchen Begriffen das gegebene Vorkommen.«
    Ulrich erzählte das in einem ruhig erklärenden Ton, und es hätte sich schwer unterscheiden lassen, ob er sich selbst erst besinnen wollte oder ob es ihm Spaß machte, Gerda mit Wissenschaft zu hypnotisieren. Gerda hatte sich von ihm entfernt; vornübergebeugt, saß sie in einem Fauteuil, hatte eine Anstrengungsfalte zwischen den. Augenbrauen und blickte zur Erde. Wenn jemand so sachlich sprach und sich an den Ehrgeiz ihres Verstandes wandte, wurde ihr Unmut eingeschüchtert; sie fühlte die einfache Sicherheit, die er ihr verliehen hatte, dahinschwinden. Sie war durch ein Realgymnasium und einige Semester der Universität gegangen; sie hatte eine Unmenge neuen Wissens berührt, das nicht mehr in den alten Fassungen des klassischen und humanistischen Geistes unterzubringen war; in vielen jungen Leuten hinterläßt solcher Bildungsgang heute das Gefühl, daß er gänzlich ohnmächtig sei, während vor ihnen die neue Zeit wie eine neue Welt liegt, deren Boden mit den alten Werkzeugen nicht bearbeitet werden kann. Sie wußte nicht, wohin das führe, was Ulrich sprach; sie glaubte ihm, weil sie ihn liebte, und glaubte ihm nicht, weil sie um zehn Jahre jünger war als er und einer anderen Generation angehörte, die sich unverbraucht dünkte, und beides verrann in einer höchst unbestimmten Weise ineinander, indes er ihr weiter erzählte. »Und nun gibt es« fuhr er fort »Beobachtungen, die aufs Haar so aussehen wie ein Naturgesetz, doch ohne daß ihnen etwas zugrundeläge, was wir als ein solches ansehen könnten. Die Regelmäßigkeit statistischer Zahlenfolgen ist bisweilen ebenso groß wie die von Gesetzen. Sie kennen sicher diese Beispiele aus irgendeiner Vorlesung über Gesellschaftslehre. Etwa die Statistik der Ehescheidungen in Amerika. Oder das Verhältnis zwischen Knaben- und Mädchengeburten, das ja eine der konstantesten Verhältniszahlen ist. Und dann wissen Sie, daß sich jedes Jahr eine ziemlich gleichbleibende Zahl von Stellungspflichtigen durch Selbstverstümmelung dem Militärdienst zu entziehen sucht. Oder daß jedes Jahr ungefähr der gleiche Bruchteil der europäischen Menschheit Selbstmord begeht. Auch Diebstahl, Notzucht und, soviel ich weiß, Bankerott haben alljährlich ungefähr die gleiche Häufigkeit…«
    Hier machte Gerdas Widerstand einen Durchbruchsversuch. »Wollen Sie mir etwa den Fortschritt erklären?!« rief sie aus und bemühte sich, in diese Ahnung recht viel Hohn zu legen.
    »Aber natürlich ja!« erwiderte Ulrich, ohne sich unterbrechen zu lassen. »Man nennt das etwas schleierhaft das Gesetz der großen Zahlen. Meint ungefähr, der eine bringt sich aus diesem, der andere aus jenem Grunde um, aber bei einer sehr großen Anzahl hebt sich das Zufällige und Persönliche dieser Gründe auf, und es bleibt – ja, aber was bleibt übrig? Das ist es, was ich Sie fragen will. Denn es bleibt, wie Sie sehen, das übrig, was jeder von uns als Laie ganz glatt den Durchschnitt nennt und wovon man also durchaus nicht recht weiß, was es ist. Lassen Sie mich hinzufügen, daß man dieses Gesetz der großen Zahlen

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