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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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zum Fortschritt kam: Beethoven! Goethe! Napoleon! Hebbel!«
    »Hm,« meinte Ulrich »der letzte war vor hundert Jahren gerade ein Säugling.«
    »Zahlengenauigkeit verachten die jungen Herrschaften!« erklärte Direktor Fischel vergnügt. Ulrich ging nicht darauf ein; er wußte, daß Hans Sepp ihn eifersüchtig verachte, aber er selbst hatte mancherlei für die wunderlichen Freunde Gerdas übrig. Er setzte sich darum in den Kreis und fuhr fort: »Wir machen in den einzelnen Zweigen des menschlichen Könnens unleugbar so viele Fortschritte, daß wir ordentlich das Gefühl haben, ihnen nicht nachkommen zu können; wäre es nicht möglich, daß daraus auch das Gefühl entsteht, wir erlebten keinen Fortschritt? Schließlich ist Fortschritt doch das, was sich aus allen Anstrengungen gemeinsam ergibt, und man kann eigentlich von vornherein sagen, der wirkliche Fortschritt wird immer gerade das sein, was keiner wollte.«
    Hans Sepps dunkler Schopf richtete sich wie ein zitterndes Horn gegen ihn. »Da sagen Sie es doch selbst: Was keiner wollte! Ein gackerndes Hin und Her; hundert Wege, aber kein Weg! Gedanken also, aber keine Seele! Und kein Charakter! Der Satz springt aus der Seite, das Wort springt aus dem Satz, das ganze ist kein Ganzes mehr – sagt schon Nietzsche; ganz abgesehen davon, daß Nietzsches Ichsucht auch ein Daseinsunwert ist! Nennen Sie mir einen einzigen festen, letzten Wert, nach dem zum Beispiel Sie sich in Ihrem Leben richten!«
    »Ausgerechnet sofort!« protestierte Direktor Fischel; aber Ulrich fragte Hans: »Sind Sie wirklich niemals imstande, ohne einen letzten Wert zu leben?«
    »Nein« sagte Hans. »Aber ich gebe Ihnen zu, daß ich deshalb unglücklich sein muß.«
    »Der Teufel soll Sie holen!« lachte Ulrich. »Alles, was wir können, beruht darauf, daß wir nicht allzu streng sind und auf die höchste Erkenntnis warten; das Mittelalter hat das getan und ist unwissend geblieben.«
    »Das ist sehr die Frage« antwortete Hans Sepp. »Ich behaupte, daß wir unwissend sind!«
    »Aber Sie müssen zugeben, daß unsere Unwissenheit offenbar eine äußerst glückliche und abwechslungsreiche ist.«
    Aus dem Hintergrund brummte eine gelassene Stimme: »Abwechslungsreich! Wissen! Relativer Fortschritt! Das sind Begriffe der mechanischen Denkweise einer vom Kapitalismus zerfaserten Zeit! Mehr brauche ich Ihnen nicht zu sagen –«
    Auch Leo Fischel brummte; soviel zu verstehen war, fand er, daß Ulrich mit diesen respektlosen Jungen sich viel zu sehr einlasse; er verschanzte sich hinter einer Zeitung, die er aus der Tasche zog.
    Aber Ulrich machte es nun einmal Vergnügen. »Ist das moderne Bürgerhaus mit Sechszimmerwohnung, Dienstbotenbad, Vacuum Cleaner und so weiter, wenn man es mit den alten Häusern vergleicht, die hohe Zimmer, dicke Mauern und schöne Gewölbe haben, ein Fortschritt oder nicht?« fragte er.
    »Nein!« schrie Hans Sepp.
    »Ist das Flugzeug ein Fortschritt gegenüber der Postkutsche?«
    »Ja!« schrie Direktor Fischel.
    »Die Kraftmaschine gegenüber der Handarbeit?«
    »Handarbeit!« schrie Hans, »Maschine!« Leo.
    »Ich denke,« sagte Ulrich »jeder Fortschritt ist zugleich ein Rückschritt. Es gibt Fortschritt immer nur in einem bestimmten Sinn. Und da unser Leben im Ganzen keinen Sinn hat, hat es im Ganzen auch keinen Fortschritt.«
    Leo Fischel ließ die Zeitung sinken: »Halten Sie es für besser, in sechs Tagen über den Atlantik zu fahren oder sechs Wochen dazu zu brauchen?!«
    »Ich würde wahrscheinlich sagen, es sei unbedingt ein Fortschritt, beides zu können. Unsere jungen Christen bestreiten jedoch auch das.«
    Der Kreis blieb reglos wie ein gespannter Bogen. Ulrich hatte das Gespräch gelähmt, aber nicht die Angriffslust. Er fuhr ruhig fort: »Aber man kann auch das Umgekehrte sagen: Wenn unser Leben Fortschritte im einzelnen hat, hat es Sinn im einzelnen. Wenn es aber einmal einen Sinn gehabt hat, zum Beispiel den Göttern Menschen zu opfern oder Hexen zu verbrennen oder das Haar zu pudern, dann bleibt das doch ein sinnvolles Lebensgefühl, auch wenn hygienischere Sitten und Humanität Fortschritte sind. Der Fehler ist, daß der Fortschritt immer mit dem alten Sinn aufräumen will.«
    »Sie wollen vielleicht sagen,« fragte Fischel »daß wir wieder zu den Menschenopfern zurückkehren sollen, nachdem wir ihre verabscheuenswürdige Finsternis glücklich überwunden haben?!«
    »Finsternis ist gar nicht so sicher zu behaupten!« antwortete Hans Sepp an Ulrichs Stelle.

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