Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Rationalismus!«
Ulrich schüttelte den Kopf. »Und was ist eigentlich mit der Demonstration gegen Graf Leinsdorf ?« fragte er sanft, als ob das noch dazugehören würde.
»Ah, Sie spionieren!« rief Gerda aus.
»Nehmen Sie an, daß ich spioniere, aber sagen Sie es mir, Gerda. Meinethalben können Sie gern auch das noch annehmen.«
Gerda wurde verlegen. »Nichts Besonderes. Nun eben irgend eine Demonstration der deutschen Jugend. Vielleicht Vorbeizug, Schmährufe. Die Parallelaktion ist eine Schmählichkeit!«
»Weshalb?«
Gerda zuckte die Achseln.
»Setzen Sie sich doch wieder!« bat Ulrich. »Sie überschätzen das. Lassen Sie uns einmal ruhig reden.«
Gerda gehorchte. »Hören Sie einmal zu, ob ich Ihre Lage begreife:« fuhr Ulrich fort. »Sie sagen also, daß Besitz töte. Sie denken dabei zuerst an Geld und an Ihre Eltern. Es sind natürlich getötete Seelen –«
Gerda machte eine hochmütige Bewegung.
»Also sprechen wir statt von Geld gleich von jeder Art Besitz. Der Mensch, der sich besitzt; der Mensch, der seine Überzeugungen besitzt; der Mensch, der sich besitzen läßt, von einem anderen oder von seinen eigenen Leidenschaften oder bloß von seinen Gewohnheiten oder von seinen Erfolgen; der Mensch, der etwas erobern will; der Mensch, der überhaupt etwas will: alles das lehnen Sie ab? Sie wollen Wanderer sein. Schweifende Wanderer, hat Hans es einmal genannt, wenn ich nicht irre. Zu einem anderen Sinn und Sein? Stimmt das?«
»Alles was Sie sagen, stimmt entsetzlich gut; die Intelligenz kann die Seele nachmachen!«
»Und die Intelligenz gehört zur Gruppe des Besitzes? Sie mißt, sie wägt, sie teilt, sie sammelt wie ein alter Bankier? Aber habe ich Ihnen denn nicht heute eine Menge Geschichten erzählt, an denen bemerkenswert viel von unserer Seele hängt?«
»Das ist eine kalte Seele!«
»Sie haben vollkommen recht, Gerda. Nun brauche ich Ihnen also bloß zu sagen, warum ich auf seiten der kalten Seelen oder sogar der Bankiers stehe.«
»Weil Sie feig sind!« Ulrich bemerkte, daß sie im Sprechen die Zähne entblößte wie ein kleines Tier in Todesangst.
»In Gottes Namen, ja« erwiderte er. »Aber Sie trauen mir, wenn schon nichts anderes, so doch das eine zu, daß ich Manns genug wäre, um an einem Blitzableiter, selbst am kleinsten Mauergesims auszubrechen, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß alle Fluchtversuche doch wieder zu Papa zurückführen!«
Gerda weigerte sich, dieses Gespräch mit Ulrich zu führen, seit ein ähnliches zwischen ihnen stattgefunden hatte; die Gefühle, von denen darin die Rede war, gehörten nur ihr und Hans, und sie fürchtete mehr noch als Ulrichs Spott seine Zustimmung, die sie wehrlos ihm ausgeliefert haben würde, ehe sie noch wüßte, ob er glaube oder lästere. Von dem Augenblick an, wo sie vorhin von seinen schwermütigen Worten überrascht worden war, deren Folgen sie nun dulden mußte, konnte man deutlich bemerken, wie heftig sie innerlich schwankte. Aber auch für Ulrich hatte es damit eine ähnliche Bewandtnis. Eine verderbte Freude an seiner Macht über das Mädchen lag ihm ganz ferne; er nahm Gerda nicht ernst, und da dies eine geistige Abneigung einschloß, sagte er ihr gewöhnlich Unangenehmes, aber seit einiger Zeit wurde er, je lebhafter er ihr gegenüber den Anwalt der Welt abgab, desto wunderlicher von dem Wunsch angezogen, sich ihr anzuvertrauen und ihr sein Inneres gleichsam ohne Arg und ohne Schönheit zu zeigen, oder das ihre anzuschaun, als wäre es so nackt wie eine Wegschnecke. Nachdenklich sah er ihr darum ins Gesicht und sagte: »Ich könnte mein Auge zwischen Ihren Wangen ruhen lassen, wie die Wolken im Himmel ruhn. Ich weiß nicht, ob die Wolken im Himmel gerne ruhen, aber am Ende weiß ich ebensoviel wie alle Hanse von den Augenblicken, wo uns Gott wie einen Handschuh packt und ganz langsam über seinen Fingern umstülpt! Ihr macht es euch zu leicht; ihr spürt ein Negativ zu der positiven Welt, in der wir leben, und behauptet kurz, die positive Welt gehöre den Eltern und Älteren, die Welt des schattenhaften Negativs der neuen Jugend. Ich will nun nicht gerade der Spion Ihrer Eltern sein, liebe Gerda, aber ich gebe Ihnen zu bedenken, daß bei der Wahl zwischen einem Bankier und einem Engel die reellere Natur des Bankierberufs auch etwas zu bedeuten hat!«
»Wollen Sie Tee?!« sagte Gerda scharf »Darf ich Ihnen unser Haus behaglich machen? Sie sollen die tadellose Tochter meiner Eltern vor sich haben.« Sie hatte sich
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