Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
»Wenn Sie einen unschuldigen Hasen verschlingen, ist das finster; wenn aber ein Kannibale unter religiösen Zeremonien ehrfürchtig einen Stammesfremden verspeist, wissen wir einfach nicht, was in ihm vorgeht!«
»Es muß wirklich an überwundenen Zeiten etw as daran gewesen sein,« schloß sich ihm Ulrich an »sonst wären doch nicht so viele nette Menschen einst mit ihnen einverstanden gewesen. Vielleicht ließe sich das für uns ausnützen, ohne große Opfer zu bringen? Und vielleicht opfern wir heute gerade deshalb noch Viele Menschen, weil wir uns die Frage der richtigen Überwindung früherer Menschheitseinfälle nie deutlich gestellt haben!? Es sind das schwer auszudrückende und undurchsichtige Beziehungen.«
»Aber für Ihre Denkweise bleibt das Wunschziel trotzdem immer nur eine Summe oder eine Bilanz!« platzte da Hans Sepp, nun gegen Ulrich, heraus. »Sie glauben geradeso an den bürgerlichen Fortschritt wie Direktor Fischel, nur drücken Sie das möglichst verwickelt und pervers aus, damit man Ihnen nicht darauf kommen soll!« Hans hatte die Meinung seiner Freunde ausgesprochen. Ulrich suchte Gerdas Gesicht. Er wollte nachlässig seine Gedanken noch einmal aufnehmen, ohne zu beachten, daß Fischel und die jungen Leute ebenso bereit waren, sich auf ihn wie auf einander zu stürzen.
»Aber Sie streben doch ein Ziel an, Hans?« sagte er von neuem.
»Es strebt. In mir. Durch mich.« erwiderte Hans Sepp kurz.
»Und wird es das erreichen?« Leo Fischel hatte sich zu dieser spöttischen Frage hinreißen lassen und trat damit, wie es alle bis auf ihn selbst verstanden, Ulrich zur Seite.
»Das weiß ich nicht!« antwortete Hans finster.
»Sie sollten Ihre Examen machen: das wäre ein Fortschritt!« Leo Fischel hatte es sich nicht versagen können, auch das zu bemerken, so sehr war er gereizt; aber nicht minder durch seinen Freund wie durch die unreifen Buben.
In diesem Augenblick flog das Zimmer in die Luft. Frau Klementine warf ihrem Gatten einen beschwörenden Blick zu; Gerda suchte Hans zuvorzukommen, und Hans rang nach Worten, die sich schließlich wieder auf Ulrich entluden: »Seien Sie sicher,« rief er ihm zu »im Grunde denken auch Sie nicht einen einzigen Gedanken, den nicht Direktor Fischel denken könnte!«
Damit stürzte er hinaus, und seine Freunde drängten mit zorniger Verbeugung hinter ihm drein. Direktor Fischel, von Klementine mit Blicken gestoßen, tat so, als ob er sich nachträglich seiner Hausherrnpflicht besänne, und verzog sich brummig ins Vorzimmer, um den jungen Leuten noch ein gutes Wort zu geben. Im Zimmer waren nur Gerda, Ulrich und Frau Klementine zurückgeblieben, die einigemale beruhigt atmete, weil die Luft nun geklärt war. Dann stand sie auf, und Ulrich fand sich zu seiner Überraschung mit Gerda allein.
103
Die Versuchung
GERDA WAR sichtbar erregt, als sie allein zurückblieben. Er faßte ihre Hand; ihr Arm begann zu zittern, und sie machte sich los. »Sie wissen nicht,« sagte sie »was das für Hans bedeutet: ein Ziel! Sie spötteln darüber; das ist freilich billig. Ich glaube, Ihre Gedanken sind noch unflätiger geworden!« Sie hatte nach einem möglichst starken Wort gesucht und erschrak nun darüber. Ulrich trachtete danach, wieder ihre Hand zu fangen; sie zog den Arm an sich. »Wir wollen eben nicht bloß so!« stieß sie hervor; sie stieß diese Worte mit heftiger Verachtung aus, aber ihr Körper schwankte.
»Ich weiß« spottete Ulrich; »alles, was zwischen euch geschieht, soll den höchsten Ansprüchen genügen. Das ist es gerade, was mich zu einem Verhalten hinreißt, das Sie so freundlich kennzeichnen. Und Sie glauben nicht, wie gern ich früher anders mit Ihnen gesprochen habe!«
»Sie sind nie anders gewesen!« erwiderte Gerda rasch.
»Ich bin immer schwankend gewesen« sagte Ulrich einfach und forschte in ihrem Gesicht. »Macht es Ihnen Vergnügen, wenn ich Ihnen ein wenig von den Vorgängen bei meiner Kusine erzähle?«
In Gerdas Augen war etwas zu bemerken, das sich von der Ungewißheit, in die sie Ulrichs Nähe versetzte, deutlich abh ob; denn sie erwartete brennend diese Mitteilung, um sie Hans weiterzugeben, und suchte es zu verbergen. Mit einiger Genugtuung fing ihr Freund das auf, und so wie ein Tier, das dicke Luft wittert, instinktiv die Fährte wechselt, begann er mit etwas anderem. »Erinnern Sie sich noch an die Geschichte vom Mond, die ich Ihnen erzählt habe?« fragte er sie. »Ich möchte. Ihnen erst einmal etwas Ähnliches
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