Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
entscheidenden Vorgänge des Lebens vollziehen sich jenseits des Verstandes. Die Größe des Menschen wurzelt im Irrationalen. Auch wir Kaufleute rechnen nicht, wie Sie vielleicht glauben möchten: sondern wir – ich meine natürlich die führenden Leute; die kleinen mögen immerhin mit ihren Pfennigen rechnen – lernen unsere wirklich erfolgreichen Einfälle als ein Geheimnis betrachten, das jeder Berechnung spottet. Wer nicht das Gefühl liebt, die Moral, die Religion, die Musik, Gedichte, Form, Zucht, Ritterlichkeit, Freimut, Offenheit, Duldsamkeit –: glauben Sie mir, der wird auch nie ein Kaufmann von großem Ausmaß. Darum habe ich immer den Kriegerstand bewundert; besonders den österreichischen, der auf uralten Überlieferungen ruht, und ich freue mich sehr, weil Sie der gnädigen Frau zur Seite stehen. Es beruhigt mich. Ihr Einfluß ist neben dem unseres jüngeren Freundes überaus wichtig. Alle großen Dinge beruhen auf den gleichen Eigenschaften; große Pflichten sind ein Segen, Herr General!«
Er schüttelte unwillkürlich Stumms Hand und sagte noch: »Die wenigsten Menschen wissen, daß das wirklich Große immer unbegründet ist; ich meine: alles Starke ist einfach!« Stumm von Bordwehr war der Atem gestockt; er glaubte, kaum ein Wort zu begreifen, und fühlte das Bedürfnis, in die Bibliothek zurückzustürzen und stundenlang über alle diese Gesichtspunkte nachzulesen, durch deren Eröffnung der große Mann ihm offensichtlich schmeicheln wollte. Zum Schluß aber trat unter diesem Frühlingssturm in seinem Kopf mit einemmal eine überraschende Klarheit auf. » Zum Teufel, der will ja irgend etwas von dir!« sagte er sich. Er blickte auf. Arnheim hielt noch immer das Buch in beiden Händen, aber traf nun ernstlich Anstalten, einen Wagen herbeizuwinken; sein Gesicht war angeregt und leicht gerötet, wie es das eines Mannes ist, der soeben mit einem anderen Gedanken getauscht hat. Der General schwieg, so wie man aus Achtung schweigt, nachdem ein großes Wort gefallen ist; wenn Arnheim von ihm etwas wollte, dann konnte doch auch der General Stumm zum Vorteil des Allerhöchsten Dienstes von Arnheim etwas wollen! Dieser Gedanke eröffnete solche Möglichkeiten, daß Stumm fürs erste verzichtete, darüber nachzudenken, ob alles wirklich richtig sei. Aber wenn der Engel in dem Buch plötzlich seine gemalten Flügel gehoben hätte, um den klugen General Stumm ein wenig darunter blicken zu lassen, dieser hätte sich nicht verwirrter und glücklicher fühlen können!
In der Ecke Diotimas und Ulrichs war inzwischen folgende Frage gestellt worden: Soll eine Frau in der schwierigen Lage Diotimas entsagen, sich zu einem Ehebruch hinreißen lassen oder ein Drittes und Gemischtes tun, wobei die Frau vielleicht körperlich dem einen, seelisch dem anderen Mann angehören würde, vielleicht auch körperlich niemandem; von diesem dritten Zustand war eben sozusagen kein Text vorhanden, sondern nur das hohe Klingen einer Musik. Und Diotima hielt auch noch immer streng darauf, daß sie durchaus nicht von sich selbst, sondern von »einer Frau« spreche; zornbereit hinderte ihr Blick Ulrich jedesmal, wenn seine Worte die beiden in eins setzen wollten.
Also sprach auch er auf Umwegen. »Haben Sie schon je einen Hund gesehen?« fragte er. Das glauben Sie bloß! Sie haben immer nur etwas gesehen, das Ihnen mit mehr oder weniger Recht als ein Hund vorkam. Es hat nicht alle Hundeeigenschaften, und irgendetwas Persönliches hat es, das wieder kein anderer Hund hat. Wie sollen wir da je im Leben ‚das Richtige‘ tun? Wir können nur etwas tun, das niemals das richtige und immer mehr und weniger als etwas Richtiges ist.
Und ist schon jemals ein Ziegel so vom Dach gefallen, wie es das Gesetz vorschreibt? Niemals! Nicht einmal im Laboratorium zeigen sich die Dinge so, wie sie sein sollen. Sie weichen regellos nach allen Richtungen davon ab, und es ist einigermaßen eine Fiktion, daß wir das als Fehler der Ausführung ansehen und in ihrer Mitte einen wahren Wert vermuten.
Oder man findet gewisse Steine und nennt sie wegen der ihnen gemeinsamen Eigenschaften Diamant. Aber der eine Stein ist aus Afrika und der andere aus Asien. Den einen gräbt ein Neger aus der Erde, den anderen ein Asiate. Vielleicht ist dieser Unterschied so wichtig, daß er das Gemeinsame aufheben kann? In der Gleichung ‚Diamant plus Umstände bleibt Diamant‘ ist der Gebrauchswert des Diamanten so groß, daß der der Umstände daneben verschwindet; es
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