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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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lieben! Sie fühlte sich mit diesen Gedanken sehr unsicher.
    »Glauben Sie denn wirklich, daß es ein grenzenloses Empfinden gibt?« fragte Ulrich.
    »Oh, es gibt grenzenloses Gefühl!« erwiderte Diotima und hatte wieder festen Boden unter den Füßen.
    »Sehen Sie, ich glaube nicht recht daran« meinte Ulrich zerstreut. »Sonderbarerweise sprechen wir oft davon, aber es ist gerade das, was wir lebenslang vermeiden, als ob wir darin ertrinken könnten.« Er bemerkte, daß Diotima nicht zuhörte, sondern unruhig zu Arnheim hinüber sah, dessen Augen einen Wagen suchten.
    »Ich fürchte,« sagte sie »wir müssen ihn von dem General erlösen.«
    »Ich werde einen Wagen anhalten und den General auf mich nehmen« bot sich Ulrich an, und in dem Augenblick, wo er ging, legte Diotima die Hand auf seinen Arm und sagte, um ihn freundlich für seine Anstrengungen zu belohnen, mit sanfter Zustimmung: »Jedes andere Gefühl als das grenzenlose ist wertlos.«

115

Die Spitze deiner Brust ist wie ein Mohnblatt
    NACH DEM GESETZ, daß auf Zeiten großer Festigkeit stürmische Umlagerungen folgen, erlitt auch Bonadea einen Rückfall. Ihre Annäherungsversuche an Diotima waren vergeblich geblieben, und es wurde nichts aus der schönen Absicht, Ulrich dadurch zu strafen, daß sich die beiden Nebenbuhlerinnen befreundeten und ihn beiseite stehen ließen, – eine Phantasie, der sie viele Träume gewidmet hatte. Sie mußte sich herabwürdigen, wieder an die Tür ihres Geliebten zu klopfen, aber dieser schien es so eingerichtet zu haben, daß sie unaufhörlich gestört wurden, und an seiner leidenschaftslosen Freundlichkeit zerrannen die Erzählungen, durch die sie ihm erklären wollte, warum sie wieder da sei, ohne daß er es verdiene. Das Verlangen, ihm dafür einen fürchterlichen Auftritt zu machen, bedrängte sie sehr, aber andererseits verbot ihr das ihre tugendhafte Haltung, so daß sie mit der Zeit große Abneigung gegen die Vorzüge empfand, die sie sich auferlegt hatte. In den Nächten saß der dicke Kopf, den unbefriedigte Wollust erzeugt, auf ihren Schultern wie eine Kokosnuß, deren affenhaarige Schale durch einen Irrtum der Natur nach innen gewachsen ist, und schließlich wurde sie so voll ohnmächtigen Zorns wie ein Trinker, dem man die Flasche entzogen hat. Sie schimpfte bei sich auf Diotima, die sie eine Schwindlerin, ein unerträgliches Frauenzimmer nannte, und ihre Phantasie versah die edel-frauliche Hoheit, deren Zauber Diotimas Geheimnis war, mit sachkundigen Anmerkungen. Die Nachahmung dieses Aussehens, die ihr solches Glück bereitet hatte, wurde Bonadea nun zum Gefängnis, aus dem sie in wüste Freiheit ausbrach; Brennschere und Spiegel verloren ihre Macht, ein Idealbild aus ihr zu schaffen, und damit fiel auch der künstliche Bewußtseinszustand zusammen, worin sie sich befunden hatte. Sogar der Schlaf, dessen sich Bonadea trotz ihrer Lebenskonflikte immer köstlich erfreut hatte, ließ jetzt abends manchmal ein wenig auf sich warten, was ihr so neu war, daß es ihr wie krankhafte Schlaflosigkeit vorkam; und in diesem Zustand fühlte sie, was alle Menschen fühlen, wenn sie ernsthaft krank sind, daß der Geist flieht und den Körper wie einen Verwundeten im Stich läßt. Wenn Bonadea in ihren Anfechtungen wie in glühendem Sand lag, kamen ihr alle klugen Redereien, die sie an Diotima bewundert hatte, meilenweit entfernt vor, und sie verachtete sie ehrlich.
    Da sie sich nicht entschließen konnte, Ulrich noch einmal aufzusuchen, ersann sie abermals einen Plan, um ihn für natürliche Empfindungen zurückzugewinnen, und zuerst war das Ende davon fertig: Bonadea wird bei Diotima eindringen, wenn Ulrich bei der Verführerin ist. Die Unterredungen bei Diotima waren ja ersichtlich nur Vorwände, um miteinander schönzutun, statt wirklich etwas fürs Allgemeine zu leisten. Bonadea dagegen wird etwas fürs Allgemeine tun, und schon war damit auch der Anfang ihres Plans fertig: denn niemand kümmert sich mehr um Moosbrugger, und dieser geht zugrunde, während die anderen große Worte machen! Bonadea war nicht einen Augenblick erstaunt darüber, daß Moosbrugger wieder zum Retter in ihrer Not werden sollte. Sie würde ihn entsetzlich gefunden haben, wenn sie über ihn nachgedacht hätte; aber sie dachte nur: »Wenn Ulrich schon solche Teilnahme für ihn hat, dann soll er ihn auch nicht vergessen!« Bei weiterer Beschäftigung mit ihrem Plan fielen ihr sodann noch zwei Einzelheiten ein: Sie erinnerte sich, daß Ulrich im

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