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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Himmel,« meinte er »wir haben davon schon gesprochen!«
    »Sie haben kein Herz! Sonst könnten Sie nicht immer so sprechen!« Sie sagte es sanft. Von den Steinplatten stieg die erwärmte Bodenluft längs ihrer Beine hoch, die von den langen Röcken, unnahbar und für die Welt nicht vorhanden, wie die Beine einer Statue umschlossen wurden. Kein Zeichen verriet, daß sie etwas bemerkte. Es war eine Zärtlichkeit, zu der kein Mensch und Mann gehörte. Ihre Augen wurden blaß. Es mochte das aber vielleicht bloß der Eindruck ihrer Zurückhaltung sein, in einer Lage, wo sie den Blicken der Vorübergehenden ausgesetzt war. Sie wandte sich Ulrich zu und sagte mit Mühe: »Wenn eine Frau zwischen Pflicht und Leidenschaft wählen muß, worauf sollte sie sich denn stützen, wenn nicht auf ihren Charakter?!«
    »Sie müssen nicht wählen!« entgegnete Ulrich.
    »Sie erlauben sich zu viel; ich habe nicht von mir gesprochen!« flüsterte seine Kusine.
    Da er darauf nichts erwiderte, blickten sie eine Weile gemeinsam und feindlich über den Platz. Dann fragte Diotima: »Halten Sie es für möglich, daß das, was wir unsere Seele nennen, aus dem Schatten hervortreten könnte, in dem es sich gewöhnlich befindet?«
    Ulrich sah sie verblüfft an.
    »In besonderen und bevorzugten Menschen« ergänzte sie.
    »Sie suchen am Ende Rapporte?« fragte er ungläubig. »Hat Sie Arnheim mit einem Medium zusammengebracht?«
    Diotima war enttäuscht. »Ich hätte nicht erwartet, daß Sie mich so mißverstehen werden!« warf sie ihm vor. »Wenn ich aus dem Schatten hervortreten gesagt habe, so meinte ich, aus der Uneigentlichkeit, aus dieser schimmernden Verstecktheit, in der wir das Ungewöhnliche manchmal empfinden. Es ist wie ein Netz ausgebreitet, das uns quält, weil es weder hält, noch losläßt. Glauben Sie nicht, daß es Zeiten gegeben hat, wo das anders war? Das Innere trat stärker hervor; einzelne Menschen gingen einen erleuchteten Weg; mit einem Wort, sie gingen, wie man früher gesagt hat, den heiligen Weg, und Wunder wurden Wirklichkeit, weil sie nichts sind als eine immer vorhandene andere Art von Wirklichkeit!«
    Diotima staunte über die Sicherheit, mit der sich das auch ohne besondere Stimmung, gleichsam wirklichkeitsfest aussprechen ließ. Ulrich wütete im geheimen, aber eigentlich war er tief erschrocken. So weit ist es also gekommen, daß dieses Riesenhuhn genau so redet wie ich? fragte er sich. Er sah Diotimas und seine Seele wieder in der Gestalt eines großen Huhns vor sich, das einen kleinen Wurm aufpickt. Uralter Kinderschreck vor der Großen Frau griff nach ihm, vermischt mit einer anderen merkwürdigen Empfindung; er fand es angenehm, von der dummen Übereinstimmung mit einem ihm verwandten Menschen gleichsam seelisch aufgezehrt zu werden. Die Übereinstimmung war natürlich nur Zufall und Unsinn; er glaubte weder an die Magie der Verwandtschaft noch an die Möglichkeit, daß er seine Kusine, und sei es im trübsten Rausch, ernst nehmen könnte. Aber in der letzten Zeit gingen Veränderungen mit ihm vor sich; er erweichte, seine innere Form, die immer die des Angriffs gewesen war, ließ nach und zeigte Neigung, umzuschlagen und in das Verlangen nach Zärtlichkeit, Traum, Verwandtschaft oder weiß Gott was überzugehn, was sich auch so ausdrückte, daß die Gegenstimmung, die damit im Kampf lag, eine Stimmung des bösen Willens, manchmal unvermittelt aus ihm hervorbrach.
    Darum spottete er auch jetzt über seine Kusine. »Ich halte es für Ihre Pflicht, wenn Sie das glauben, entweder öffentlich oder im geheimen, aber so rasch wie möglich Arnheims ‚voll und ganz‘-Geliebte zu werden!« sagte er ihr.
    »Bitte, schweigen Sie! Davon zu sprechen, habe ich Ihnen kein Recht gegeben!« wies das Diotima zurück.
    »Ich muß davon sprechen! Es ist mir bis vor kurzem unklar gewesen, welche Beziehungen zwischen Ihnen und Arnheim eigentlich bestehen. Aber ich sehe jetzt klar, und Sie kommen mir vor wie ein Mensch, der ernstlich zum Mond fliegen will; ich hätte Ihnen so viel Verrücktheit gar nicht zugetraut.«
    »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich maßlos zu sein vermag!« Diotima suchte kühn in die Luft zu blicken, aber die Sonne zog ihr Pupille und Lid zu einem beinahe lustigen Ausdruck zusammen.
    »Das sind Delirien des Liebeshungers,« sagte Ulrich »die mit der Sättigung vergehen.« Er fragte sich, was Arnheim mit seiner Kusine vorhaben möge. Bereute er seinen Antrag und versuchte, den Rückzug durch eine Komödie zu

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