Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
lassen sich aber seelische Umstände denken, in denen sich das umgekehrt verhält.
Alles hat teil am Allgemeinen, und noch dazu ist es besonders. Alles ist wahr, und noch dazu ist es wild und mit nichts vergleichbar. Das kommt mir so vor, als ob das Persönliche eines beliebigen Geschöpfes gerade das wäre, was mit nichts anderem übereinstimmt. Ich habe Ihnen früher einmal gesagt, daß in der Welt desto weniger Persönliches übrigbleibt, je mehr Wahres wir entdecken, denn es besteht schon lange ein Kampf gegen das Individuelle, dem immer mehr Boden abgenommen wird. Ich weiß nicht, was zum Schluß von uns übrig bleiben wird, wenn alles rationalisiert ist. Vielleicht nichts, aber vielleicht gehen wir dann, wenn die falsche Bedeutung, die wir der Persönlichkeit geben, verschwindet, in eine neue ein wie in das herrlichste Abenteuer.
Wie wollen S ie sich also entscheiden? Soll ‚eine Frau‘ nach dem Gesetz handeln? Dann kann sie sich gleich nach dem bürgerlichen Gesetz richten. Moral ist ein durchaus berechtigter Durchschnitts- und Kollektivwert, den man wörtlich und ohne Seitensprünge zu befolgen hat, wo man ihn anerkennt. Einzelfälle aber sind nicht moralisch zu entscheiden, sie haben genau so wenig Moral, genau so viel sie von der Unerschöpflichkeit der Welt besitzen!«
»Sie haben eine Rede gehalten!« sagte Diotima. Sie fühlte eine gewisse Befriedigung über die Höhe dieser an sie gestellten Zumutungen, wünschte aber ihre Überlegenheit dadurch zu zeigen, daß sie nicht ebenso ins Blaue rede. »Was soll also eine Frau in jener Lage, von der wir gesprochen haben, im wirklichen Leben tun?« fragte sie.
»Gewährenlassen!« erwiderte Ulrich.
»Wen?«
»Was kommt! Ihren Mann, ihren Geliebten, ihre Entsagung, ihre Gemische.«
»Haben Sie wirklich eine Vorstellung davon, was das bedeutet?« fragte Diotima, die sich schmerzlich daran erinnert fühlte, wie dem hohen Vorsatz, Arnheim vielleicht zu entsagen, durch die einfache Tatsache, daß sie mit Tuzzi in einem Raum schlief, allnächtlich die Flügel gestutzt wurden. Von diesem Gedanken mußte ihr Vetter etwas aufgefangen haben, denn er fragte kurzweg: »Wollen Sie es mit mir versuchen?«
»Mit Ihnen?« antwortete Diotima gedehnt; sie suchte sich durch harmlosen Spott zu schützen: »Wollen Sie mir vielleicht ein Offert darüber machen, wie Sie sich das eigentlich vorstellen?«
»Ohne weiteres!« erbot sich Ulrich ernst. »Sie lesen doch sehr viel, nicht wahr?«
»Gewiß.«
»Was tun Sie da? Ich will gleich die Antwort geben: Ihre Auffassung läßt aus, was Ihnen nicht paßt. Das gleiche hat schon der Autor getan. Ebenso lassen Sie im Traum oder in der Phantasie aus. Ich stelle also fest: Schönheit oder Erregung kommt in die Welt, indem man fortläßt. Offenbar ist unsere Haltung inmitten der Wirklichkeit ein Kompromiß, ein mittlerer Zustand, worin sich die Gefühle gegenseitig an ihrer leidenschaftlichen Entfaltung hindern und ein wenig zu Grau mischen. Kinder, denen diese Haltung noch fehlt, sind darum glücklicher und unglücklicher als Erwachsene. Und ich will gleich hinzufügen, auch die Dummen lassen aus; Dummheit macht ja glücklich. Ich schlage also als erstes vor: Versuchen wir einander zu lieben, als ob Sie und ich die Figuren eines Dichters wären, die sich auf den Seiten eines Buchs begegnen. Lassen wir also jedenfalls das ganze Fettgerüst fort, das die Wirklichkeit rund macht.«
Diotima drängte es, Einwände zu machen; sie wünschte jetzt das Gespräch aus dem allzu Persönlichen hinauszulenken, und zudem wollte sie zeigen, daß sie von den berührten Fragen etwas verstünde. »Sehr schön,« antwortete sie »aber man behauptet, daß die Kunst eine Erholung von der Wirklichkeit sei, mit dem Zweck, erfrischt zu dieser zurückzukehren!«
»Und ich bin so unverständig,« erwiderte ihr Vetter »daß ich behaupte, es dürfe keine ‚Erholungen‘ geben! Welch ein Leben, das man zeitweilig mit Erholungen durchlöchern muß! Würden wir in ein Bild Löcher stoßen, weil es zu schöne Ansprüche an uns stellt?! Sind in der ewigen Seligkeit etwa Urlaubswochen vorgesehen? Ich gestehe Ihnen, daß mir sogar die Vorstellung des Schlafs manchmal unangenehm ist.«
»Oh, da sehen Sie,« unterbrach ihn Diotima, die sich des Beispiels bemächtigte, »wie unnatürlich das ist, was Sie sagen! Ein Mensch, ohne das Bedürfnis nach Ruhe und Aussetzen! Kein Beispiel beleuchtet den Unterschied zwischen Ihnen und Arnheim so gut wie dieses! Auf der
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