Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Einfachheit,« fuhr Arnheim fort »führt deutlich vor Augen, was unserer Zeit verlorengegangen ist. Was bedeutet dagegen unsere Wissenschaft? Bruchwerk! Unsere Kunst? Extreme, ohne einen vermittelnden Körper! Das Geheimnis der Einheit fehlt unserem Geist, und sehen Sie, darum ergreift mich dieser österreichische Plan, der Welt ein vereinigendes Beispiel, einen gemeinsamen Gedanken zu schenken, wenn ich ihn auch nicht für ganz durchführbar halte. Ich bin Deutscher. In der ganzen Welt ist heute alles laut und plump; aber in Deutschland ist es noch lauter. In allen Ländern plagen sich die Menschen von früh bis spät, ob sie nun arbeiten oder sich vergnügen; aber bei uns stehen sie noch früher auf und gehen noch später zu Bett. In aller Welt hat der Geist des Rechnens und der Gewalt den Zusammenhang mit der Seele verloren; aber wir in Deutschland haben die meisten Kaufleute und das stärkste Militär.« Er blickte entzückt rund um den Platz. »In Österreich ist alles das noch nicht so entwickelt. Hier gibt es noch Vergangenheit, und die Menschen haben sich etwas von der ursprünglichen Intuition bewahrt. Wenn sie überhaupt noch möglich ist, so könnte nur von hier die Erlösung des deutschen Wesens vom Rationalismus ausgehen. Aber ich fürchte,« fügte er seufzend hinzu »es wird schwerlich gelingen. Eine große Idee findet heute zu viel Widerstände; große Ideen sind nur noch dazu gut, einander am Mißbrauchtwerden zu hindern, wir leben sozusagen im Zustand eines mit Ideen bewaffneten Moralfriedens.«
Er lächelte über seinen Scherz. Und dann fiel ihm noch etwas ein: »Sehen Sie, der Unterschied zwischen Deutschland und Österreich, von dem wir soeben gesprochen haben, erinnert mich immer ans Billardspiel: Auch beim Billard verfehlt man alles, wenn man es mit Berechnung machen will, statt mit dem Gefühl!«
Der General hatte erraten, daß er sich durch den Ausdruck bewaffneter Moralfriede geschmeichelt fühlen solle, und er wünschte seine Aufmerksamkeit zu beweisen. Vom Billardspiel verstand er etwas; »ich bitte,« sagte er darum »ich spiele Karambol und Kegel, aber ich habe noch nie davon gehört, daß es einen Unterschied zwischen der deutschen und der österreichischen Spieltechnik gibt?«
Arnheim schloß die Augen und dachte nach. »Ich selbst spiele nie Billard,« sagte er dann »aber ich weiß, daß man den Ball hoch oder tief, rechts oder links nehmen kann; man kann den zweiten Ball voll treffen oder streifen; man kann stark oder schwach stoßen; die ‚Fälsche‘ stärker oder schwächer wählen; und sicher gibt es noch viele solcher Möglichkeiten. Ich kann mir nun jedes dieser Elemente beliebig abgestuft denken, so gibt es also nahezu unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten. Wollte ich sie theoretisch ermitteln, so müßte ich außer den Gesetzen der Mathematik und der Mechanik starrer Körper auch die der Elastizitätslehre berücksichtigen; ich müßte die Koeffizienten des Materials kennen; den Temperatureinfluß; ich müßte die feinsten Maßmethoden für die Koordination und Abstufung meiner motorischen Impulse besitzen; meine Distanzschätzung müßte genau wie ein Nonius sein; mein kombinatorisches Vermögen schneller und sicherer als ein Rechenschieber; zu schweigen von der Fehlerrechnung, der Streuungsbreite und dem Umstand, daß das zu erreichende Ziel der richtigen Koinzidenz der beiden Bälle selbst kein eindeutiges ist, sondern eine um einen Mittelwert gelagerte Gruppe von eben noch genügenden Tatbeständen darstellt.«
Arnheim sprach langsam und zur Aufmerksamkeit zwingend, wie wenn aus einem Tropffläschchen etwas in ein Glas gegossen wird; er erließ seinem Gegenüber nicht eine einzige Einzelheit.
»Sie sehen also wohl,« fuhr er fort »daß ich lauter Eigenschaften haben und Dinge tun müßte, die ich unmöglich haben und tun kann. Sie sind sicher Mathematikers genug, um beurteilen zu können, welche lebenslängliche Aufgabe es wäre, wenn man auf diese Weise auch nur den Verlauf eines einfachen Karambolstoßes berechnen wollte; der Verstand läßt uns einfach im Stich! Trotzdem trete ich, mit einer Zigarette im Munde, einer Melodie im Sinn, sozusagen den Hut auf dem Kopf, an das Brett heran, gebe mir kaum die Mühe, die Situation zu betrachten, stoße zu und löse die Aufgabe! Herr General, das gleiche geschieht im Leben unzähligemal! Sie sind nicht nur Österreicher, sondern auch Offizier, Sie müssen mich verstehen: Politik, Ehre, Krieg, Kunst, die
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