Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
ein, daß man ebensogut von einer Wolldecke sagen könnte, sie sei wie eine Oktobernacht. Er spürte eine sanfte Unsicherheit auf der Haut und zog Bonadea fester an sich.
»Wirst du jetzt hineingehen?« fragte Bonadea.
»Und das Unrecht verhindern, das Moosbrugger zugefügt werden soll? Nein; ich weiß ja nicht einmal, ob ihm wirklich Unrecht geschieht! Was weiß ich von ihm? Ich habe ihn einmal in einer Verhandlung flüchtig gesehen, und einiges andere, das über ihn geschrieben worden ist, habe ich gelesen. Es ist so, wie wenn ich von der Spitze deiner Brust geträumt hätte, sie sei wie ein Mohnblatt. Darf ich darum schon glauben, daß sie wirklich eines ist?«
Er dachte nach. Auch Bonadea dachte nach. Er dachte, »es ist doch wirklich so, daß ein Mensch, auch nüchtern betrachtet, für den anderen nicht viel mehr bedeutet als eine Reihe Gleichnisse.« Bonadea, nachdenkend, kam zu dem Ergebnis: »Komm, gehen wir fort!«
»Das ist unmöglich,« gab Ulrich zur Antwort »man würde fragen, wo ich geblieben sei, und wenn etwas von deinem Besuch durchsickern sollte, so würde das übles Aufsehen erregen.«
Schweigen, Hinaussehen und etwas, das ebensogut Oktobernacht, Jännernacht, Wolltuch, Schmerz oder Glück sein konnte, ohne daß sie es unterschieden, vereinigte die beiden wieder.
»Warum tust du nie das Nächstliegende?« fragte Bonadea.
Er erinnerte sich mit einemmal an einen Traum, den er in der letzten Zeit gehabt haben mußte. Er gehörte zu den Menschen, die selten träumen oder sich wenigstens nie des Träumens entsinnen, und es berührte ihn seltsam, wie sich diese Erinnerung unversehens öffnete und ihn einließ. Er hatte mehrmals vergeblich versucht, einen steilen Berghang zu überqueren, und war jedesmal von heftigen Schwindelgefühlen zurückgetrieben worden. Ohne weitere Erklärung wußte er jetzt, daß sich dieses Erlebnis auf Moosbrugger bezog, der aber nirgends darin vorkam. Es bedeutete auch, wie ein Traumbild oft mehrfachen Sinn hat, in körperlicher Weise die vergeblichen Versuche seines Geistes, die sich in letzter Zeit immer wieder in seinen Gesprächen und Beziehungen geäußert hatten und ganz einem Gehn ohne Weg glichen, das über irgendeinen Punkt nicht hinauskommt. Er mußte über die ungekünstelte Handfestigkeit lächeln, mit der sein Traum das dargestellt hatte: glatter Stein und abrutschende Erde, da und dort ein einzelner Baum als Halt oder Ziel und dazu das ungestüme Wachsen des Höhenunterschieds im Gehen. Er hatte es mit dem gleichen Mißerfolg höher und tiefer versucht, und es wurde ihm schon übel von Schwindel, als er jemand, der mit ihm ging, erklärte, wir lassen es sein, ganz unten in der Talsohle führt ohnehin der bequeme allgemeine Weg! Das war deutlich! Es kam Ulrich übrigens vor, daß die Person in seiner Gesellschaft ganz gut Bonadea gewesen sein konnte. Vielleicht hatte er wirklich auch davon geträumt, daß die Spitze ihrer Brust wie ein Mohnblatt sei; etwas Unzusammenhängendes, das für das suchende Gefühl recht wohl breite Zackigkeit, dunkel malvenfarbiges Blaurot sein konnte, löste sich aus einem noch nicht erhellten Winkel des Traumbilds wie ein Nebel.
In diesem Augenblick trat jene Helle des Bewußtseins ein, wo man mit einem Blick seine Kulissen sieht, samt allem, was sich dazwischen abspielt, auch wenn man diesen Eindruck beiweitem nicht darlegen kann. Die Beziehung, die zwischen einem Traum und dem, was er ausdrückt, besteht, war ihm bekannt, denn es ist keine andere als die der Analogie, des Gleichnisses, die ihn schon des öfteren beschäftigt hatte. Ein Gleichnis enthält eine Wahrheit und eine Unwahrheit, für das Gefühl unlöslich miteinander verbunden. Nimmt man es, wie es ist, und gestaltet es mit den Sinnen, nach Art der Wirklichkeit aus, so entstehen Traum und Kunst, aber zwischen diesen und dem wirklichen, vollen Leben steht eine Glaswand. Nimmt man es mit dem Verstand und trennt das nicht Stimmende vom genau Übereinstimmenden ab, so entsteht Wahrheit und Wissen, aber man zerstört das Gefühl. Nach Art jener Bakterienstämme, die etwas Organisches in zwei Teile spalten, zerlebt der Menschenstamm den ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre von Ahnung, Glaube und Künstlichkeit. Es scheint, daß es dazwischen keine dritte Möglichkeit gibt; aber wie oft endet etwas Ungewisses erwünscht, wenn man ohne viel Überlegen damit beginnt! Ulrich hatte
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