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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Jetzt, letzten Endes aber ein sehr ungewisser, ja ausgesprochen unwirklicher Zustand! – sich in die paar Dutzend Kuchenformen stürzt, aus denen die Wirklichkeit besteht; oder daß an allen Kreisen, in denen wir uns drehen, ein Stück fehlt; daß von allen Systemen, die wir errichtet haben, keines das Geheimnis der Ruhe besitzt: so hängt auch das, so verschieden es aussieht, zusammen wie die Äste eines Baums, die nach allen Seiten den Stamm verbergen.
    In diesen beiden Bäumen wuchs getrennt sein Leben. Er konnte nicht sagen, wann es in das Zeichen des Baums des harten Gewirrs getreten war, aber früh war das geschehen, denn schon seine unreifen napoleonischen Pläne zeigten den Mann, der das Leben als eine Aufgabe für seine Tätigkeit und Sendung ansah. Dieser Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber war jederzeit deutlich zu bemerken gewesen, mochte er sich als Ablehnung bestehender oder als wechselndes Streben nach neuer Ordnung, als logisches, als moralisches oder sogar bloß als das Verlangen nach athletischer Vorbereitung des Körpers dargestellt haben. Und alles, was Ulrich im Lauf der Zeit Essayismus und Möglichkeitssinn und phantastische, im Gegensatz zur pedantischen Genauigkeit genannt hatte, die Forderungen, daß man Geschichte erfinden müßte, daß man Ideen-, statt Weltgeschichte leben sollte, daß man sich dessen, was sich nie ganz verwirklichen läßt, zu bemächtigen und am Ende vielleicht so zu leben hätte, als wäre man kein Mensch, sondern bloß eine Gestalt in einem Buch, von der alles Unwesentliche fortgelassen ist, damit sich das übrige magisch zusammenschließe, – alle diese, in ihrer ungewöhnlichen Zuspitzung wirklichkeitsfeindlichen Fassungen, die seine Gedanken angenommen hatten, besaßen das Gemeinsame, daß sie auf die Wirklichkeit mit einer unverkennbaren schonungslosen Leidenschaftlichkeit einwirken wollten.
    Schwieriger zu erkenn en, weil schatten- und traumhafter, waren die Zusammenhänge im anderen Baum, in dessen Bild sich sein Leben darstellte. Ursprüngliche Erinnerung an ein kindhaftes Verhältnis zur Welt, an Vertrauen und Hingabe mochte den Grund bilden; in der Ahnung, einmal als weite Erde gesehen zu haben, was sonst nur den Topf füllt, aus dem die kümmerlichen Gewächse der Moral sprießen, hatte das weitergelebt. Ohne Zweifel bildete jene leider etwas lächerliche Geschichte mit der Frau Major den einzigen Versuch zu voller Ausbildung, der auf der sanften Schattenseite seines Wesens entstanden war, und bezeichnete zugleich den Beginn eines Rückschlags, der nicht mehr endete. Blätter und Zweige des Baums trieben seither auf der Oberfläche umher, aber dieser selbst blieb verschwunden, und es ließ sich nur an solchen Zeichen erkennen, daß er doch noch vorhanden war. Am deutlichsten hatte sich diese untätige Hälfte seines Wesens vielleicht in der unwillkürlichen Überzeugung von der bloß vorläufigen Nützlichkeit der tätigen und rührigen Hälfte ausgeprägt, den sie wie einen Schatten auf diese warf. Bei allem, was er unternahm – körperliche Leidenschaften ebenso darunter verstanden wie geistige –, war er sich schließlich wie der Gefangene von Vorbereitungen vorgekommen, die nicht zu ihrem eigentlichen Ende kamen, und im Verlauf der Jahre war seinem Leben darüber das Gefühl der Notwendigkeit ausgegangen wie das Öl in einer Lampe. Seine Entwicklung hatte sich offenbar in zwei Bahnen zerlegt, eine am Tag liegende und eine dunkel abgesperrte, und der ihn umlagernde Zustand eines moralischen Stillstands, der ihn seit langem und vielleicht mehr als nötig bedrückt hatte, konnte von nichts anderem als davon kommen, daß es ihm niemals gelungen war, diese beiden Bahnen zu vereinen.
    Nun erkannte Ulrich, in der Erinnerung daran, daß sich ihm ihre unmögliche Verbindung zuletzt in dem gespannten Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, Gleichnis und Wahrheit dargestellt hatte, mit einemmal, daß alles das beiweitem mehr bedeute als nur eine zufällige Eingebung in einem der wie ziellose Wege verschlungenen Gespräche, die er in der letzten Zeit mit den unpassendsten Personen geführt hatte. Denn so weit die menschliche Geschichte zurückreicht, lassen sich diese beiden Grundverhaltensweisen des Gleichnisses und der Eindeutigkeit unterscheiden. Eindeutigkeit ist das Gesetz des wachen Denkens und Handelns, das ebenso in einem zwingenden Schluß der Logik wie in dem Gehirn eines Erpressers waltet, der sein Opfer Schritt um Schritt

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