Der Mann ohne Geld - Meine Erfahrungen aus einem Jahr Konsumverweigerung
ich den Spaß und die Entspannung wirklich zu schätzen wusste, sollte das Festival, ohne dass ich es ahnte, einen viel größeren Einfluss auf mein Leben nehmen.
Es begann kurz vor vier Uhr am vorletzten Tag, als ich auf einen Freund stieß, der mir erzählte, dass am Nachmittag ein toller Workshop stattfinde, geleitet von einem Dichter namens Paradox, der am Abend zuvor eine fantastische und inspirierende Performance abgeliefert hatte. Im Workshop stellten wir uns die übliche Frage nach dem Sinn des Lebens und diskutierten, wie sich der Sinn im Verlauf unseres Lebens verändert, mit dem Ziel, eine Tragikomödie über unser bisheriges Leben zu schreiben. Es ist einfach, solche Übungen als »Hippie-Macken« abzutun, doch ich habe das Gefühl, dass wir Menschen in der modernen Welt zu wenig Zeit damit verbringen, über unseren Platz in der Welt und wo wir hingehen, nachzudenken. Am Anfang einigten wir uns darauf, dass das Leben an sich keinen Sinn hat, aber mit der Zeit das »Ich« oder »Du« unserem Leben wechselnde Bedeutungen geben, damit wir einen Schwerpunkt und einen Daseinsgrund haben. Mir wurde klar, dass mir im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren der Status als bravster Junge in der Schule einen Lebenssinn gab, im Alter zwischen zwölf und 16 war es meine Leistung beim Sport, und zwischen 16 und 21 waren es Bier, Frauen, Designerklamotten und Geld. Doch zwischen 21 und 26 fand ich den Sinn meines Lebens darin, dass ich meinen konditionierten Geist freigab und alle Lügen über die Welt auseinandernahm, mit denen man mich gefüttert hatte. Heute finde ich meinen Lebenssinn in dem Bemühen, alles anzuwenden, was ich gelernt habe, um möglichst behutsam und respektvoll mit unserem Planeten und allen seinen Bewohnern umzugehen – als Entschädigung für das reichlich konsumgesteuerte Verhalten, das ich in den ersten 20 Jahren meines Lebens an den Tag legte.
Paradox las uns ein außergewöhnliches, wahrhaftiges Gedicht vor. Er hatte ein total verrücktes Leben geführt und war auch etliche Male obdachlos gewesen. An einem Tag kamen zwei Frauen, die sich nicht kannten, zu ihm und behaupteten, sie seien von ihm schwanger. Ein anderes Mal hatte er einen Unfall in Mexiko, bei dem ihm das Bein abgerissen wurde und er beinahe gestorben wäre, weil nicht genug Blut seiner Blutgruppe vorrätig war. Einer der Gründe, warum er sich Paradox nannte, war, dass dieses Ereignis für ihn zugleich der beste und der schlimmste Moment seines Lebens war. Er verlor sein Bein, aber er hätte auch sein Leben verloren, wenn nicht eine Gruppe von Mexikanern, die er gar nicht kannte, über einen Aufruf in allen lokalen Radiostationen unermüdlich versucht hätte, einen Blutspender aufzutreiben. Während er auf seinem Bett lag, wurde ihm bewusst, dass sein Leben sich bis zu diesem Zeitpunkt nur um ihn und sein Ego gedreht hatte und er nicht mehr der Mensch war, der er sein wollte. Er beschloss, andere zu inspirieren und der Welt zu Diensten zu sein, indem er das mit anderen teilte, was er am besten konnte: dichten. Eines der letzten Dinge, die er sagte, war, dass man auf seinem Sterbebett erkennen wird, welche Dinge im eigenen Leben eine echte Bedeutung haben und was wichtig ist. Und damit ist nicht gemeint, von welcher Marke dein Trainingsanzug und dein T-Shirt sind oder wie viel du im letzten Jahr verdient hast. Es sind deine Familie, deine Freunde und sogar die Natur.
Am Ende des Workshops lasen wir die Gedichte vor, die wir geschrieben hatten. Ich spürte nichts als tiefe Bewunderung und konnte mich in die Menschen um mich herum hineinversetzen, von denen ich viele zuvor vielleicht für seltsam, verschroben oder verrückt gehalten hatte. Als wir unsere Lebensgeschichten hörten, wurde uns bewusst, wie erstaunlich es war, dass wir überhaupt lebten! Ich fühlte mich hochgradig inspiriert und blickte zurück auf die letzten Monate mit einigen Zweifeln, zu was für einem Menschen ich mich entwickelte. Ich fand es schwer zuzusehen, welche Zerstörung und welches Leid wir Menschen verursachen. Meine Art damit umzugehen, war, zu urteilen, wo ich überhaupt kein Recht dazu hatte. Wenn ich jemand anderem für all das die Schuld geben könnte, müsste ich meine eigene Art zu leben nicht ändern.
Inspiriert durch Paradox beschloss ich, jeden Tag so zu leben, als wäre es mein letzter. Ich hatte jedoch keine Ahnung, dass das Universum dafür sorgen würde, dass ich die Botschaft am nächsten Morgen klar und deutlich vernahm. Ich war
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