Der Mann schlaeft
des Masseurs, ein langer Gang führt ins Bad, in die Küche und in die drei Zimmer, die von uns bewohnt werden.
Der Masseur ist gerade bei der Arbeit. Er behandelt eine ältere Dame, die vermutlich jünger ist als ich. Mehrfach war ich im Wohnzimmer gewesen, während der Masseur Kunden hatte, es stört hier niemanden. Zum einen ist der Chinese sehr zurückhaltend, wenn es um Körperlichkeiten in Beziehungen geht. Man sieht sie sich halten und streicheln, aber selten küssen, und nie fassen sie einander ans Gesäß oder tragen zu freizügige Kleidung. Außer sie arbeiten als Prostituierte.
Auf der anderen Seite berühren sie Fremde sehr schnell, haben keine Scheu vor Massagen oder der Zurschaustellung von Gesang, Tanz oder Gymnastik in der Öffentlichkeit.
Die Kundin lässt sich jedenfalls nicht stören. Kim bereitetTee, mit dem wir uns an den Tisch setzen und darauf warten, dass irgendwas passiert, was besser ist als das Warten auf einen anderen Zustand.
Ich versuche mir vorzustellen, dass ich hierbleiben würde. Akzeptieren, dass mein altes Leben weg ist. Außer Haus gegangen, um Zigaretten zu holen. Mit der Zeit werde ich vergessen. Alles vergisst man, das Gute und Schlechte, und man gewöhnt sich an andere Umgebungen, Menschen, Zustände. Der Zustand hier würde vielleicht nicht immer so fremd bleiben. Ich könnte die Sprache lernen, mit den Frauen in den Geschäften reden, meine Gebrauchsanweisungen schreiben, an den Strand gehen. Ich würde Bekanntschaft mit den hier lebenden Ausländern machen und würde Paare, die Marc und Sue heißen, in ihren Häusern besuchen, wir würden BBQ machen und ein wenig über daheim reden, was bei Marc und Sue England wäre. Nein, wir vermissen England nicht, würden sie sagen, die Kinder gehen hier in die internationale Schule, das Wetter ist prächtig, und nie hätten wir in London ein eigenes Haus, geschweige denn mit Meerblick. Dann würden Marc und Sue sich verliebt wie am ersten Tag ansehen und aneinanderschmiegen. Ich merke kaum, dass ich weine, erst als ein paar Tränen auf meine Hand tropfen, weiß ich: So würde mein Leben aussehen, wenn ich bliebe. Ich würde genau hier sitzen, an diesem Tisch, und weinen, Tee trinken und warten.
Damals.
Vor weniger als drei Monaten. Nacht.
Vielleicht würde der Mann genau auf jenem Boot sein, das dem meinen entgegenkam. Ich würde ihn sehen, wenn er da stünde, alle überragend, mit einem weißen Hemd, und seine Haare stünden wie Feuer um seinen großen Kopf. Ich würde ihn sehen, auf dem Boot, das uns entgegenkam, doch ich sah ihn nicht. Ich lief auf dem Deck, von links nach rechts und wieder zurück, ich konnte nicht sitzen, unmöglich, zu sitzen und die Lichter anzusehen, in den Hochhäusern, ein schönes Bild, so romantisch, und die kleinen Familien, die auf Sofas lümmelten, aneinandergepresst, sich kraulend.
Ich konnte nur laufen. Auf diesem verdammten Boot hin und her und denken, vielleicht hatte er jemanden getroffen. Sehr unwahrscheinlich, denn der Mann kannte kaum Menschen, aber die Möglichkeit, dass er gerade an jenem Donnerstag einen Tessiner in Hongkong getroffen hatte, war durchaus gegeben. Er hatte sich festgeredet, er redete wenig, aber vielleicht war es ausgerechnet an jenem Tag aus ihm gesprudelt, geflossen, all die Jahre des Schweigens hatten sich pulverisiert in einen Strom von Worten, den er nicht zu stoppen vermochte. Vielleicht wollte er einmal mit einer Prostituierten schlafen. Mit einer chinesischen Prostituierten, mit einem Schielkätzchen, Männer haben zuweilen solche Ideen. Vielleicht war er verunglückt, über die Tramgleise gestolpert, beide Beine gebrochen, und war im Krankenhaus und der Telefon-Akku leer, und die Schwestern des Englischen nichtmächtig. Vielleicht hatte er einen tödlichen Unfall gehabt. Schneller laufen. Auf dem Deck, ängstlich beobachtet von Passgieren.
Jeden Tag verunglücken Menschen tödlich. Ein Auto, von einem Greis gelenkt, das in die Menge rast, ein umgefallener Kran, ein Junkie mit einer Machete, der durchgedreht ist und Leute enthauptet, willkürlich.
Das Boot legte am Schiffsterminal an. Tausende waren unterwegs, mit ähnlichen Zielen. Irgendwann wollen sie doch alle nur nach Hause, egal, wie glänzend der Beruf ist, egal, wie obsessiv die Party war, sie wollen irgendwohin, wo sie die Schuhe ausziehen können und sich das Gesicht waschen und in alten Kleidern auf Betten schmieren. Wenn sie sich nur damit begnügen wollten, die Idioten, wenn sie nur nicht
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