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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sibylle Berg
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musste mich bewegen, weil es nun fünf Stunden her war, dass der Mann die Wohnung verlassen hatte und er vermutlich am Anleger saß, drüben auf der großen Insel, sicher saß er da, mit einer Zeitung, und hatte die Fähre verpasst.
    Kein Grund, nervös zu werden. Ich würde entspannt in ein Café gehen, etwas lesen und nur ab und an mal einen Blick auf die ankommenden Fähren werfen. Hauptsächlich aber würde ich mich genießen, die Freiheit meiner Zellen, ihre unglaubliche Aufgeräumtheit.
    Im Café am Hafen saßen die, die immer da saßen. Verwitterte Ausländer und die Prostituierte der Insel, die zu treffen ich schon einmal das Vergnügen gehabt hatte.
    Das Café schien ihr Büro, wo sie ihre Steuern erledigte und ihren Terminkalender mit Kundenterminen füllte, die sie telefonisch entgegennahm. Immer trug sie eine kurze Pelzjacke und war ein wenig betrunken. Nur wer die Männer und ihre Freude an Frauen, denen sie sich überlegen fühlen konnten, nicht näher kannte, würde ihren Beruf und ihre Behinderung als Widerspruch empfinden.
    Ich las immer wieder die ersten fünf Zeilen eines Buches, die Konzentration nicht vorhanden, der Blick ging zum Bootsanleger, wo jetzt zum Feierabend halbstündlich Fähren eintrafen.
    Alle zehn Minuten hatte ich versucht, den Mann anzurufen, hatte ihm Nachrichten geschickt und war ohne Antwort geblieben. Wahrscheinlich hörte er das Telefon nicht. Oder die Batterie war leer. So etwas passiert häufiger, als man meinen sollte.
    Er würde gleich kommen. Er war immer gleich gekommen, warum sollte es an diesem Tag anders sein.
    Am Anfang unseres gemeinsamen Lebens, als wir noch nicht zusammenwohnten, hatte ich ihn vom Flughafen abgeholt. Hatte Stunden vorher im Internet den Verlauf seines Fluges verfolgt, mich gefragt, was bei einem Absturz auf dem elektronischen Flugbeobachter vermittelt würde. Einfach »Verspätet«? »Gecancelt«? Ich erinnere mich noch an das Gefühl am Flughafen; die Anzeigetafel nicht aus dem Blick lassend, stellte ich mir vor, wie Seelsorger uns Hinterbliebene in Trostkabinen führen würden. Was würden sie sagen? »Kopfhoch, es muss ja weitergehen. Wollen Sie sich ein Spielzeug aus der Box nehmen?«
    Er war immer gekommen. Jedes Mal war er gekommen, und ich konnte mich nicht freuen, in der ersten Stunde, befand mich zu sehr im Schock, den ich mir selbst erzeugt hatte. Er war immer gekommen. Ich konnte mir vorstellen, wie er unter den Passagieren der nächsten Fähre wäre. Wie ich ihm entgegenlaufen würde und an ihm hochspringen, und er, wie immer, ein wenig steif würde und nicht wüsste, was man mit einem Affenjungen macht, das an einem hochspringt. Wir würden essen gehen, in unserem Restaurant, egal in welchem, auf der Insel hatte es ungefähr zehn Restaurants, wir waren in jedem schon gewesen, jedes war unseres, und er würde mir die Zeitungen geben und erzählen, was für merkwürdige Menschen er getroffen hatte. Aus unerklärlichen Gründen füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich hörte seine Stimme, mit der er wenig sprach, wir wussten doch fast alles, was wir uns erzählen wollten. Sein Blick am Morgen, wenn er erwachte, wenn ich nichts mehr wollte, als diesen Menschen beschützen und ihn festhalten für immer, und nicht daran denken, dass wir irgendwann getrennt werden könnten und ich vergessen könnte, wie seine Stimme klang.
    Unterdes war die Dunkelheit gekommen, mit frischem Wind, und meine Aufregung war zu Panik geworden. Ich hatte das Café verlassen. Ich konnte nicht mehr dort sitzen und noch einen Tee bestellen und die Prostituierte bei noch einem Kundengespräch beobachten. Ich stand am Anleger und sagte mir: Zwei Fähren noch. Zwei warte ich noch und dann. Dann wusste ich nicht. Zwei Fähren kamen, es war neun, der Mann war nicht an Bord. Und ich bestieg das Boot.

Heute.
Immer noch Nachmittag.
    Der gelbe Himmel hat sich bis in die Gasse gesenkt, alle Geräusche verschwinden in ihr, die Umrisse der Personen unscharf. Ich schaue die roten Keramiksteine am Boden der Terrasse an, das grüne Metallgeländer, das gegenüberliegende Haus, in dem einige Bären gerade um ein Lagerfeuer sitzen, in das sie Kartoffeln an Spießen halten. »Komm, wir sehen nach, was dein Großvater macht«, sage ich, um dem bettelnden Blick des Kindes zu entgehen, der Erwartung, deren Freund ich im Allgemeinen nicht bin und die ich im Besonderen nicht erfüllen kann. Die Wohnung besteht aus einem großen Raum, in dem der Esstisch steht und der Behandlungssessel

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