Der Mann von Anti
Physik, sondern er führte ihre Termini auch bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit im Munde. Auch Entropie. Und gerade sie; es verlockte ihn sehr, sie in allen Bereichen anzuwenden. Als er »zurückkam«, tröstete er sich über die allgemeine Ratlosigkeit mit Naturwissenschaft hinweg. Das schuf die Verbindung von seiner dumpfen Reiseerinnerung zur Entropie.
Entropie – das bedeutete hier die Summe der psychischen Unterschiede der einzelnen, genommen über die Menschheit. Torsten nahm zwei beliebige Menschen und maß ihre »psychische Differenz«. Dann addierte er diese Differenzen – für alle möglichen Paare – und teilte durch die Anzahl der Menschen auf der Erde. Davon den Kehrwert. Dies nannte er »psychische Entropie«. Und entsprechend dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre wurde daraus die These ab geleitet, daß diese psychische Entropie nie ab-, sondern im Gegenteil im allgemeinen ständig zunähme. Was war darunter zu verstehen?
In der Vergangenheit hätten neben relativer geistiger Finsternis um so heller die Flammen mächtiger Persönlichkeiten gelodert: Archimedes, Müntzer, Hus, Newton, Goethe, Cromwell, Napoleon, Garibaldi – explodierende Naturen. Dann die Zeit der Kritik, später aber vor allem die des Analysierens und der Abgrenzung, wiewohl nach wie vor mit Schöpfertum verbunden, schwächte bereits ab: Marx und Lenin, Shaw, Einstein, Brecht, Picasso, Tarnage und Bongo Ri. Kurz gesagt, je mehr die Menschheit im Erkenntnisprozeß fortschritte und je mehr soziale und zivilisatorische Errungenschaften das Leben zum Leben machten, um so gleichmäßiger, ja gleichförmiger entwickelte sich die menschliche Natur. Die »Großen« stürben aus. Das habe nichts mit Spezialistentum zu schaffen. Wer halte schon die Entdecker des X 17 -Mesons und des Y 18 -Mesons auf Anhieb auseinander? Doch auch nur wieder Fachleute – und die Speicher. Irgendwie hinge es mit dem sozialen Existenzkampf zusammen. Die Persönlichkeiten der Vergangenheit, sagte Torsten, auch die der einfachen Menschen, sind auf eine bestimmte Weise »stärker« als wir Heutigen, und die Morgigen werden noch schwächer sein.
Er hatte überraschende Beispiele zur Hand. Etwa dies: Es war wohl 1978, da kamen amerikanische Rundfunkmanager auf eine makabre Idee. Sie wollten die Sexualität ihrer Zuhörer nicht nur fördern, sondern in Art und Weise – diktieren. Mit ausgearbeiteten minutiösen Programmen. Anregende Musik, ausgeklügelte Absolutpausen, Empfehlungen für Essen und Trinken. Anweisungen für erotische Handlungen – wie Morgengymnastik. 1800 wäre das undenkbar gewesen – nicht nur aus technischen Gründen! Später hieß es entschuldigend* man wolle nur dem allgewaltigen Fernsehen die Stirn bieten.
Natürlich nimmt die Raffinesse lustvoller menschlicher Tätigkeiten zu, ihre Intensität, ihre Leidenschaft hingegen irgendwie ab. Bei uns gibt es keine solchen Sendungen mehr. Aber das hat uns nicht stärker gemacht, sondern eher geschwächt. In unseren Augen sind selbst die, die damals solchen Sex-Sendungen frönten, psychisch immer noch stärker als wir, die wir verzichteten. Speziell negative Eigenschaften – Starrsinn, Überheblichkeit, offene Prahlerei, physische Aggression – weisen in diesem Sinne auf psychische Stärke.
Zunächst handele es sich um zwei verschiedene Begriffe: psychische Stärke und psychische Differenz (zu anderen). Aber erwachse psychische Stärke nicht geradezu aus der psychischen Differenz zu anderen, das heißt, bildeten die beiden nicht eine Einheit? Selbst die Rauschgiftsüchtigen dieser Zeit hätten – so gesehen – »mehr« Psyche gehabt. Denn wir setzten nichts Positives dagegen. Natürlich, die Toleranz aller für alles, das Verständnis – all das nehme zu. Es gehöre aber auch der unbestimmte Terminus »Vorsicht« hinein. Schließlich: Verflachung, Einebnung. Ja, Einebnung sei das rechte Wort. Unsere Skala sei breiter geworden – nicht tiefer. Gewissermaßen lebe in jedem von uns etwas von Einstein, Napoleon und so weiter.
Diese Meinung wird durchaus nicht von allen geteilt. Eine nicht unbedeutende Gruppe, die ich mit Rationalisten bezeichnen möchte, nannte diese Theorie mystisch, unwissenschaftlich. Natürlich, so argumentierten sie, ändere sich die Persönlichkeit relativ zur Gesellschaft, werde aber doch nicht schwächer. Überhaupt gebe es keine Meßvergleiche dieser globalen Art im psychischen Bereich. Es änderten sich nur die Formen, in denen eine Persönlichkeit in der
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