Der Mann von Anti
Umwelt beziehungsweise auf sie wirken könne. Vielleicht müsse man solche Wirkungen um so höher bewerten, eben weil die Einsicht in gesellschaftliche Bewegungsgesetze Rücksichtnahme, Verantwortungsbewußtsein, Kompromisse, Geduld, also auch Verzögerungen forderte. Selbst wenn man sich vergleichsweise physikalischer Termini bedienen würde: War der psychische Bereich überhaupt ein abgeschlossenes System, war also die Voraussetzung des zweiten Hauptsatzes erfüllt? Außerdem: Das Psychische gehört zu den kompliziertesten Erscheinungen. Hier sind Materielles und Immaterielles unlöslich miteinander verflochten und zudem sozial determiniert. War es da methodologisch überhaupt zulässig, Begriffe anzuwenden, die einem wesentlich einfacher strukturierten, noch dazu ausschließlich naturwissenschaftlichen Bereich entstammten? Ebenso fragwürdig wäre es, wenn jemand mit einem Zentimetermaß molekulare Prozesse erforschen wolle. Persönlichkeiten würden anders, nicht stärker oder schwächer. Den »Mystikern« zufolge dürften ja bei einer Reise in die Zukunft – falls sie einmal möglich würde – überhaupt keine Rückkehrprobleme auftreten, weil die Zukunft psychisch »schwächer« wäre als die Gegenwart; es sei denn, man bliebe in den Startlöchern sitzen. Nach ihrer – der »Rationalisten« – Theorie aber gäbe es immer Rückkehrschwierigkeiten, da es sich um ein ungerichtetes Anderssein von Persönlichkeiten handelte…
Übrigens: Anne wurde »Rationalist«, ich dagegen ergriff nicht Partei. Was die Vorkommnisse um Ute und Torsten anbelangt und auch meine Zeitdifferenz: Sie könnte vernünftig gedeutet werden, wenn man annimmt, daß die Persönlichkeiten dessen, der schlüpft, schwächer ist als diejenige, in die er eindringt. Die Kraftfelder von Maren und Lars wirkten auf Ute und Torsten dermaßen, daß es für sie nur noch zwei Möglichkeiten gab: im jetzigen Zustand zu verharren oder – wieder das unglückliche Paar zu werden…wie bei Stevensons »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«. (Ja, auch darin, daß Maren und Lars in Ute und Torsten gewissermaßen schlummerten und auf diese Weise ständig mit ihnen im Konflikt lebten.)
Auch wenn es nicht zu diesem Extrem kommt, erweist sich die Persönlichkeit der Vergangenheit, in die geschlüpft wurde, immerhin als so viel stärker, daß ihr Verlassen schwieriger ist als das Hineinschlüpfen in sie, mithin die Rückkehrzeit größer ist – Zeitanomalie. Nun gut, das zu dieser Theorie. Aber so oder so, den beiden Verunglückten war damit nicht geholfen. Zudem alarmierten uns die wöchentlichen medizinischen Untersuchungen. Beide nahmen ständig ab. Als würden sie ausgezehrt, aufgesogen von der Vergangenheit. Es mußte etwas geschehen.
Zunächst hielten Torsten und ich wieder unsere privaten Abende ab. Seine allgemeine seelische Erschütterung und seine mathematischen Studien erinnerten Torsten jetzt deutlicher an seine Lars-Gefühle, soweit es diese Wissenschaft betraf. Heutzutage denkt man in Systemen. Damals bevorzugte man das Einzelproblem. Torsten sagte, er hätte sich geradezu wohl gefühlt… bei einer simplen Reihenentwicklung! Daß es damals noch die Schulen einzelner Professoren gab, wußte ich schon. Auch das paßte zur Entropietheorie.
Aber wieder schlug die Tür der Erinnerung zu. Unsere Abende blieben ergebnislos. Dennoch, wir wollten sie nicht missen. Ute schaute uns an, Anne umsorgte uns alle. Nur Heiner blieb aus. Er wollte nicht stören, er meinte das nicht ironisch.
Wir glaubten, diese Abende müßten die Leiden von Ute und Torsten mildern. Meine Absicht – nach Absprachen mit den Psychologen – bestand darin, durch Aufdeckung und Analyse des Erlebten eine Art psychoanalytischen Heilakt zu vollziehen. Aber bei Ute fehlte sogar dieser Ansatz, und Torsten schien auch nicht glücklicher zu werden. Und – unverminderte Gewichtsabnahme. Nun löste sich auch Heiners äußerliche Ruhe auf. Könnten wir nicht Ute und mich fahren lassen… nein, nein, Ute würde Maren von 1956 werden und ich in 1982 ankommen. Es geht wieder nicht…
Ich beriet mich mit Anne. In letzter Zeit übertraf sie mich an Energie. Daß sich Ute nicht aufschloß, ließ sie das Problem umfassender sehen. »Dieter, wir müssen es irgendwie anders machen – was ihr tut, ist Flickwerk. Was war mit Maren und Lars? Wenn mich nicht alles täuscht, dann bestand ihre Liebe nicht… das kann es gewesen sein. Du, können wir das nicht ändern?«
»Was redest du da, Anne? Die Vergangenheit
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