Der Mann von Anti
meinte, daß er, von der Zukunft herkommend, die Welt von Lars gar nicht anders sehen konnte. Anders gesagt: Durch unsere Reise gewannen wir im subjektiven Bereich lediglich Einblick in einige negative Aspekte objektiver gesellschaftlicher Prozesse von damals. (Natürlich erwarteten wir von vornherein, daß Zeitreiseerinnerungen persönlicher Natur sein würden. Stand ein solches fragwürdiges Ergebnis in einem vertretbaren Verhältnis zum Aufwand? Vom Risiko ganz zu schweigen!) Wie hatten wir auf die Totale gehofft! Nun hielten wir wieder nur eine Hülle in den Händen, eine weitere, die zu den anderen gelegt werden konnte, die uns die Geschichte überließ. (Laß den Vergangenen das Vergangene, laßt es ihnen…)
Doch dann begann Torsten von Maren zu erzählen. Maren war anscheinend streng erzogen worden. In ihren Augen sollte Lars ein starker Beschützer sein – ein Märchenprinz, kein Partner. Ich lasse viele irrlichtelierende Begegnungen der beiden beiseite, deren sich Torsten entsann. Nach reiflicher Analyse wurde uns beiden aber klar, daß folgende Szene – die wir durch wahrscheinliche Annahmen ergänzten – eine Schlüsselstellung einnahm.
Schilderung aus Torstens Munde, ergänzt.
»Beinahe hätte ich sie verpaßt, da ich auf dem falschen Bahnsteig wartete. Sie küßte mich zärtlich, aber mit einer Müdigkeit, die von der Bahnfahrt herrühren mochte. ,Lars, ein dummer Mensch war im Abteil. Setzte sich mir gegenüber, wollte
dauernd mit mir reden. Ich konnte gar nicht Anatomie pauken.‘ – ,Aber … Ute – U… Unsinn, verzeih… ‘ – ,Warum sagst du Ute? Wer ist diese Ute?‘ – ,Nein, nein, nicht, was du denkst – vielleicht kennst du sie auch?‘ (Ein idiotischer Fehler.) ,Ich
meine, er wollte dich kennenlernen. Das war’s, weiter nichts.
Verstehst du das nicht?‘ Sie wurde verwirrt. ,Mich kennenlernen? Das darf er doch nicht, ich hab’ ja dich!‘ – ‚Das weiß er
aber doch nicht, Maren. Und nimm doch mal an, daß er – ich
gewesen wäre?‘ – ,Aber du warst es ja nicht!‘ Sie sprach es keuchend. ,Du, das bist eben du!‘
Volkspark, Küsse. U… Maren, du bist wie die leibhaftige Versuchung in deinem schwarzen Pullover.
Dann saßen wir auf einer Bank an einer Kirche, die ihre Schatten über uns warf. ,Ich sollte dein Märchenprinz sein?
Aber Maren, was für ein Anachronismus!‘ – ,Dann eben mein Bub, mein großer dummer Bub.‘
Ich lag in deinen Armen und fühlte deinen Körper wie eine schwere Aufgabe. Der Mond kam aus den Wolken und trat scharf neben die Kirche. Es war so, wie es sein sollte… oder doch nicht, denn irgendwas… irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas war falsch mit uns beiden. Ich – ich mach’ dich wohl nicht glücklich, Maren, dachte ich inmitten liebevoller Empfindungen. Aber ich hab’ doch nur dich, oder –?
Maren sah mich fast ängstlich an….«
Darstellung derselben Szene in Lars’ »Tagebuch«: »Maren erwartete ich im Bahnhof. Als ich die ganze rußige
Halle übersah, fiel mir unter den vielen Strichmännlein auf den weit entfernten Bahnsteigen eines besonderes auf. Der Gang? Blondes Haar? Es ist Maren! Ein dummer Junge auf dem falschen Bahnsteig! Wenn immer alles so einfach zu lösen wäre wie hier! Die Beine in die Hand nehmen! Richtig stolz war ich, daß ich sie schon von weitem erkannte.
O verzeih jeden anderen Gedanken. Du. Du. – Mir ist angenehm müde. Lokomotiven puffen unter den vielen düsteren Lichtern in der Ferne.
Dann hatte ich meine Maren wieder. Mein reisemüdes Mädchen. Wie war’s denn? Und sie erzählt. ,Lars, ich hab mich so geärgert! Weißt du, ich wollte doch hinzu noch ein bißchen Anatomie lernen. Da saß aber so’n Kerl mir gegenüber – im Abteil war sonst niemand weiter –, der guckte schon so komisch. Dann sprach er mich an, so dumm aber auch, und störte mich immerzu. Ich hab’ gar nichts mehr machen können. Ist das nicht frech und gemein, ja?’ – ,Natürlich, das mit dem Lernen ist wirklich schade. Nur, du hast ihm eben gefallen. Kein Wunder. Und da hat er eben versucht… Weißt du, ich kann den Mann schon verstehen. Denk mal, ich wäre es gewesen, was dann?’ Als ich sie darauf ansah, waren ihre Augen voll Vor
wurf und Kummer. ,Du, das bist eben du!‘ Irgendwie fühlte ich
schlagartig die Spannung, suchte verlegen nach Worten. Eine Sekunde lang war der Abgrund geöffnet. Ich hatte an den Grundfesten ihrer Liebe gerüttelt. Erst später ist mir das Schreckliche klargeworden. Die erste
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