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Der Mann von Anti

Der Mann von Anti

Titel: Der Mann von Anti Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ekkehard Redlin (Hrsg)
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Institutsräume waren völlig verwaist, in anderen drängten sich die Menschen. Kaum waren wir drei beisammen, stellte man eine Wache vor die Tür. Wir schauten uns verstört an. Isolation? Drei von der KOMMISSION traten ein. Nach sieben Monaten und zehn Tagen hatte Torsten (oder Ute?) das Notsignal gegeben. Die Zeitreise war gescheitert.
    Man sprach von einer Katastrophe. Die beiden Zurückgekehrten schwiegen. Die ersten Tage konnten sie nur vegetieren. Nur gut, daß die Rückkehr überhaupt gelang. Meine dunklen Ahnungen… Mir wurde beklommen. Die Ursachen? Die Zeitdifferenz war zwar größer als bei den Tests, blieb aber unerheblich. Das konnte es eigentlich nicht gewesen sein, oder doch… Was war geschehen?
Aus Ute war nichts herauszubekommen. Eine Art geistiger
Lähmung – wir mußten sie den Psychiatern überlassen. Anne kamen die Tränen, als sie sie sah.
    Nach Wochen unterschiedlichster Rekonvaleszenzversuche fand Torsten zu sich. Mit einer Kommission wollte er aber nichts zu tun haben, um nichts auf der Welt. Er wies stumm auf mich. Würde er sich mir anvertrauen?
    Und nun begannen unsere vertraulichen Sitzungen, meist abends und bei mir. Licht brauchten wir kaum, und das Dunkel mag geeignet gewesen sein, zumindest das wenige, dessen er sich entsann, deutlicher hervortreten zu lassen. Wie ein Blinder tastend, setzte er die Worte. Das Ergebnis war vergleichsweise gering. Zunächst entsann er sich eines – wie soll ich sagen – Lautgebildes, das wir lange nicht enträtseln konnten: »Sswómakòttlettälßchen«, mit Betonung auf dem zweiten »o«. Diese Sprache war uns unbekannt. In welche Zeit und an welchen Ort war Torsten verschlagen worden?
    Erst als Torsten anfing, einen studentischen Eßraum jener Zeit zu beschreiben und sich an immer mehr Einzelheiten zu erinnern, hörte ich das Wort »Kotelett« heraus, eine damals begehrte Fleischspeise. Eine würdig-beleibte ältere Dame nahm mit einem Lächeln, das er nicht so sehr milde als vielmehr ölig nannte, etwas entgegen, was als »Essengeld« bezeichnet wurde, um dann die entsprechend vorgebrachte Bestellung der Küchenfrau Else (Älßchen) zuzurufen: »Zweimal Kotelett, Eischen!« Wie bei einer Fotoentwicklung traten die Konturen dieses Raumes und seiner Essen immer deutlicher hervor. Mit Maren sei er auch dagewesen.
    Die überbrachte sprachliche Äußerung, die anschaulich geschilderte Räumlichkeit und die dort beobachteten Verhaltensweisen ließen den Schluß zu: Was den technischen Vorgang betraf, hatte das ZM-Programm einwandfrei funktioniert. Aber sonst – nichts. Weder über das Studium noch über Maren. Ob er noch andere gekannt habe?
    Torsten schüttelte den Kopf und schwieg.
Später löste sich noch ein Kuriosum aus dem Nebel. »Scheiße unter Glas.« Was das denn gewesen wäre? Ich versuchte, Torsten mit Mutmaßungen zu helfen. Konnte es ein Schlüsselwort für eine unbeliebte Vorlesungsreihe gewesen sein oder im Gegenteil die negativ verklausulierte Andeutung für eine schwer zu erreichende, aber desto höher geschätzte Annehmlichkeit im studentischen Leben? Lange nicht so deutlich wie im Eßraumfall fand Torsten schließlich heraus, daß ein mit Lars mehr oder weniger befreundeter Kommilitone sich eine umfangreiche Exkrementensammlung zugelegt hatte – von Tieren und Menschen, streng nach Stammbaum, Alter, Geschlecht und Einkommen geordnet. Vielleicht als optisches Zeichen von Protest und Abwertung.
Dann noch das Bild eines dunklen Gartens. Marens? Des Freundes? Sein eigener? Torsten schaffte es nicht mehr.
Ute war von Anne aufgenommen worden. Nach Wochen absoluten Schweigens fuhr Anne nächtlich Utes Schrei ins Herz, daß sie, die ruhige Anne, einen Schock bekam: »Wie ich sie hasse, wie ich Maren hasse!« Aber kein Kommentar. Keine Erinnerung. Die fehlende Remanenz – sieben Monate standen gegen vierzehn geforderte – ließ sich eben wie retrograde Amnesie behandeln.
Wir ließen von diesen Versuchen ab. Torsten und Ute – wir freuten uns sehr – fanden sich allmählich in die Gegenwart zurück. Ute lebte jetzt bei Heiner. Torsten befaßte sich mit Mathematik. Das hing wohl auch mit seiner Erinnerung zusammen, war aber leider nicht auswertbar. Das Leben mußte weitergehen. Die Forschungspläne existierten. Das unglückliche Ereignis beschäftigte alle – was nun? Ursachen – nicht zu ermitteln. Die Beratungen, die in immer höhere Ebenen hinaufstiegen, verliefen ergebnislos. Es gab allen Ernstes keinen Ausweg. Niemand konnte

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