Der Mann von Nebenan
Meter weit kommen, rechts von ihr standen die Maispflanzen über einen Meter hoch. Reflexartig bog sie nach rechts und kämpfte sich durch den Wald aus Blättern und biegsamen Stämmen. Sie konnte kaum noch sehen, in welche Richtung sie lief; sie hoffte nur, daß sie auf der Straße landen würde.
Sie bog die letzten Pflanzen auseinander und machte einen Sprung auf den Asphalt; in der gleichen Sekunde sah sie den Wagen, der sich in hoher Geschwindigkeit näherte. Er mußte gewendet haben und versuchte nun, ihr den Weg abzuschneiden.
Wie ein gejagtes Kaninchen lief sie kopflos die Straße entlang, in der Hoffnung, der Wagen würde sie überholen und im Regen verschwinden. Aber er bremste ab und folgte ihr nun im Abstand von wenigen Metern. Der Fahrer betätigte Hupe und Lichthupe.
Plötzlich erhellte ein gewaltiger Blitz die Szenerie, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnern. Kate schrie auf und stürzte zu Boden.
Auf dem Beifahrersitz des Wagens kam sie wieder zu sich.
»Alles in Ordnung, Frau Moor?« hörte sie Mattuscheks Stimme. Er reichte ihr ein Handtuch und musterte sie besorgt.
»Sie waren einen Moment bewußtlos«, stellte er fest.
»Ganz schön schreckhaft, was?«
Kate trocknete sich mechanisch das Gesicht ab.
»Was … was tun Sie hier?« fragte sie.
»Ich habe zufällig gesehen, wie Sie vorhin losgelaufen sind. Als das Gewitter so schlimm wurde, habe ich mir Sorgen gemacht und bin Ihnen nachgefahren.«
In Kate kämpften widerstreitende Empfindungen. Einerseits war sie dankbar, andererseits ärgerlich. Und sie schämte sich für ihr lächerliches Verhalten.
»Warum sind Sie denn vor mir weggelaufen?« fragte Mattuschek.
»Ich habe Sie gar nicht bemerkt«, sagte Kate unfreundlich.
Sie wollte auf keinen Fall, daß er glaubte, sie hätte Angst gehabt.
Wenig später hielt er vor ihrem Haus.
»Danke«, sagte Kate und stieg schnell aus.
Ein schwarzer Sportwagen bremste Millimeter neben Kates Gartenzaun. Die Fahrertür flog auf, und zwei schlanke Beine in hochhackigen Sandalen schwangen heraus. Ein schwarzes, enges Leinenkleid folgte; ein dunkler Pagenkopf im Stil der 20er Jahre und knallrote Lippen komplettierten das Bild von Olga.
Sie gehörte zu den Frauen, die das, was die Natur ihnen an Schönheit versagt hat, durch Stil wettmachen. Sie wußte genau, was ihr stand. Niemals hatte sie eine Laufmasche im Strumpf oder einen Fleck auf dem Kleid. Sie verkörperte die perfekte Eleganz. Dazu war sie selbstbewußt und extravertiert, frei von Zweifeln und Ängsten.
Kate beneidete sie manchmal. Sie selbst war so ziemlich das Gegenteil davon. Aber vielleicht war gerade ihre Gegensätzlichkeit die Ursache ihrer gegenseitigen Zuneigung.
Es war ein Sonntag ohne Samuel. Kate war dankbar, daß Olga gekommen war. Die Frauen umarmten sich.
»Wie ist der Bollmann-Fall ausgegangen?« erkundigte sich Kate, und Olga grinste.
»Die Firma mußte für drei Jahre Gehalt nachzahlen«, sagte sie zufrieden. »Wenigstens die sind nicht ungeschoren davongekommen.«
Mit zwei Anwaltskollegen betrieb Olga eine florierende Kanzlei; sie befaßte sich überwiegend mit Arbeitsrecht; gelegentlich auch mit Mietwucher und illegalen Entmietungen.
Etwas storchenhaft stakste sie in ihren hohen Schuhen über die Wiese, um Kates neues Heim in Augenschein zu nehmen.
»Schön geworden, der Garten«, lobte sie und ließ sich auf der Bank nieder. »Ich war lange nicht mehr hier, aber wenn ich mich recht entsinne, sah es immer aus wie im Dschungel.«
Sie schloß genießerisch die Augen und bot ihr Gesicht der Sonne dar.
Auf Mattuscheks Terrasse waren hektische Vorbereitungen im Gange. Gudrun deckte und dekorierte den Kaffeetisch, während Willi alle paar Minuten in einem neuen Outfit auftauchte, das er begutachtet haben wollte. Er stolzierte auf der Terrasse hin und her, man hörte Gudrun »Das ist doch schön!« ausrufen und »Was soll man machen?« murmeln, wenn Willi im Haus verschwand, um sich erneut umzuziehen.
Kate stieß Olga an, und amüsiert beobachteten die beiden Frauen die Szene.
»Das muß der bekloppte Nachbar sein, von dem Nellis mir mal erzählt hat.« Olga grinste.
»Ach ja? Was hat er dir denn erzählt?« fragte Kate.
»Daß er sich in alles reinhängt, was ihn nichts angeht. Ist so’n Herr Wichtig, du weißt schon, einer von den Typen, die zuviel Zeit haben.«
Das fand Kate allerdings auch. Noch immer war es ihr peinlich, daß er sie in dem aufgelösten Zustand erlebt hatte; naß, verdreckt und zitternd
Weitere Kostenlose Bücher