Der Mann von Nebenan
man sich alleine fühlt .«
Es gab Kate einen Stich. Wie war es möglich, daß ein Zwölfjähriger solche Gedanken hatte? Sie wünschte, er wäre kindlicher, unbelasteter. Aber spätestens seit der Scheidung war es damit endgültig vorbei.
»Warum liebt ihr euch eigentlich nicht mehr, Bernd und du?« fragte er weiter.
Kate war überrascht. Monatelang war Samuel Gesprächen über die Trennung ausgewichen, sie hatte begonnen, sich in diesem Schweigen einzurichten. Und nun, plötzlich, wollte er eine Antwort? Sie holte tief Luft.
»Das ist schwer zu erklären, Sammy. Vielleicht haben wir von Anfang an nicht richtig zusammengepaßt.«
»Und warum habt ihr das nicht gleich gemerkt?«
»Weil wir verliebt waren. Wenn man verliebt ist, übersieht man gerne die Fehler des anderen.«
Kate drehte eine Bob-Marley-Locke zwischen den Fingern. Sie konnte das Gesicht ihres Sohnes nicht sehen. Er saß noch immer mit dem Rücken zu ihr, eng an sie geschmiegt, und kraulte die kleine Katze, die leise schnurrte. Ihre Barthaare zitterten, hin und wieder zuckte eine ihrer winzigen Pfoten. Vermutlich fing sie im Traum Mäuse. Winzig kleine Mäuse.
»Woran merkt man, daß man verliebt ist?« nahm Samuel den Faden wieder auf.
Kate überlegte. Ja, woran merkte man es eigentlich? Es war schon so lange her, daß sie sich kaum noch an das Gefühl erinnerte.
Sie ist im tiefsten Tief ihres Lebens. Einundzwanzig und schon am Ende. Die Öffentlichkeit nimmt regen Anteil an ihrem Schicksal, teils mitleidig, teils hämisch, wie immer, wenn ein Idol gestürzt ist. Die Presse rennt ihr die Bude ein, ständig sind Kameras und Mikrophone auf sie gerichtet.
Dann plötzlich dieser Reporter, der so ganz anders ist. Unbekümmert, heiter, unaufgeregt. Der aus der Menge der Gesichter auftaucht, ihr Halt gibt mit seinen Fragen, sie nicht demütigt und bloßstellt. Sie merkt sich sein Gesicht, bei einem Sportler-Empfang treffen sie sich zufällig wieder. Wenig später sind sie ein Paar.
»Man spürt den anderen, obwohl er nicht da ist«, versuchte Kate, die Gefühle des Anfangs zu beschreiben.
»Man fühlt sich, als hätte man zuviel Cola getrunken, zittrig und aufgeregt. Manche Leute können nichts mehr essen. Man sehnt sich nach dem anderen, als wäre er die zweite Hälfte von einem selbst und als wäre man nicht vollständig ohne ihn.«
Samuel hörte schweigend zu. Kate betrachtete seine Hand, die jetzt ruhig auf der Katze lag und sie zur Hälfte bedeckte. Sie sah die gleiche helle Haut mit den Sommersprossen wie an ihren eigenen Händen. Die Finger waren kürzer, kräftiger. Die Nägel runder.
»Und woran merkt man, daß man nicht mehr verliebt ist?«
»Wenn die Aufregung nachläßt. Wenn man nicht mehr unablässig an den anderen denkt. Wenn er einem auch mal auf den Wecker geht.«
Samuels Hand hatte ihre Tätigkeit wieder aufgenommen. Sanft bewegten sich seine Finger durch das Fell.
»Und was ist der Unterschied zwischen verliebt sein und lieben?« setzte er die Fragestunde mit der Ernsthaftigkeit eines Schülers fort, der sich auf eine Prüfung vorbereitet.
Kate lächelte in sich hinein.
»Na ja, wenn man Glück hat, wird aus der Verliebtheit Liebe. Wenn man Pech hat, hört sie auf, und es bleibt nichts zurück.«
»Ist mir alles zu kompliziert«, sagte Samuel und richtete sich auf. »Ich glaube, das ist nichts für mich.«
Ihre Vorderseite fühlte sich plötzlich kühl an, da, wo gerade noch sein Rücken an ihr gelehnt hatte. Sie wollte die Arme ausstrecken, ihn wieder zu sich heranziehen. Sie tat es nicht.
»Und das mit dem Küssen ist echt ein Problem«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Da steckt man sich doch gegenseitig die Zunge in den Mund, oder?«
Sein Gesicht drückte derartigen Abscheu aus, daß Kate laut auflachte.
»Das kommt dir jetzt komisch vor, aber wenn du erst mal verliebt bist, wirst du es verstehen, glaub mir!«
Er blickte zweifelnd. »Ich find’s echt ekelhaft, wie Bernd und Ramona sich immer abknutschen.«
Kate spürte einen Stich in der Magengrube. Ruhig sagte sie: »Die beiden sind eben verliebt. Sicher passen sie viel besser zusammen als Bernd und ich. Aber wichtig ist doch, daß wir deine Eltern bleiben, auch wenn wir kein Paar mehr sind.«
Bob Marley, zwölfjährig, klein und sommersprossig, warf ihr einen Blick zu. Kate begriff, daß sie ihm nichts erklären mußte. Er hatte sie längst durchschaut.
Der Rohling ihrer Auftragsflöte hatte tagelang im Ölbad gelegen; jetzt holte Kate
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