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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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»R« bei Rodin. Er schoss gleichzeitig zum Kuchenessen mit einer Bockflinte auf Maulwurfshügel, wenn er meinte, darin einen Rüssel dieser kleinen Grabviecher gesehen zu haben, oder er holte Spatzen vom Strohdach, was keinen, nicht mal mehr die Kühe aufregte, solange er nicht auf Exfreunde seiner Tochter zielte, was auch schon vorgekommen war.
    So saß die Familie da auf der Gartenbank: Die Mutter mit Ringo Starr, indischen Kühen und den immer neuesten Zeitströmen, die sie in ihren Clubnächten in Bremen aufgesogen hatte; der Vater mit seinen Hasenmenschen, und der Großvater hielt Ausschau nach Rüsseln, ballerte auf kleine Haufen oder knallte »Volksschädlinge« ab, wie er sie nannte, die dann herunterrollten vom Dach und neben der Kuchentafel aufschlugen, wenn er traf.
    »Agrarschädlinge bitte, die heißen Agrarschädlinge«, das war das Einzige, was Pauls Vater unter seiner Schöpferglocke hervorbrachte, während die Großmutter zwischen Gartentisch und Backofen hin- und herlief, um die Familie mit weiteren Blechen Butterkuchen zu versorgen.
    Nur Paul und »Nullkück«, sein leicht geistesgestörter Verwandter, sahen sich an und konzentrierten sich ausschließlich auf Großmutters Werk. Der Butterkuchen war wie eine zusammenhaltende Kraft in diesen Zeiten, wo die Generationen so aneinanderstießen, dass sich alles neu ordnen musste. Der Butterkuchen konnte die Menschentage mit den Schöpfertagen verbinden, und wenn es nur das gemeinsame Kauen war, das für Geschlossenheit und Verlässlichkeit sorgte in der Künstlerkolonie Worpswede - an diesem Ort im Norden, in den sumpfigen Wiesen am Rande des Teufelsmoors.
     
    Der Inder stellte das Mattar Paneer auf den Tisch. Paul schüttete den gesamten Reis auf seinen Teller und starrte in den leeren Topf. Wie alte, bereits vergangene Leben fortdauern; als ob man an den alten Leben und Geschichten hängt wie an einer Kette, dachte Paul und starrte immer noch in den Topf des Inders. Vielleicht zog es ihn auch hinein, vielleicht fiel er auch durch den Topf in die Erinnerung.
     

Rilkesohn
    Clara hieß sie, die Frau von Rilke, von der seine Großmutter immer erzählt und die sie als ihre beste Freundin bezeichnet hatte. In ihren Erzählungen kam Clara oft mit dem Fahrrad, was Paul beeindruckte, er konnte sich kaum vorstellen, wie die Frau von Rainer Maria Rilke, dessen Gedicht »Der Panther« er in der Schule lernen musste, seine Großmutter besuchte. »Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt« - und dann kam die Gattin von dem mit einem Fahrrad. Sie brachte für Pauls Großmutter zum Geburtstag einen Topf mit, es war ein doppelwandiger kalifornischer Patent-Kochtopf (Fabrikat: For everything), den Rilke 1901 aus Worpswede-Westerwede in Amerika per Katalog bestellt hatte und in dem nichts anbrannte, auch wenn man gar nicht umrührte.
    »Der ist von Rainer, was soll ich noch immer an ihn denken? Koch du damit!«, sagte Clara und legte ihn Greta in den Schoß.
    Greta, Pauls Großmutter, erzählte die nächsten zwanzig Jahre sehr viel von dem Topf. Der Rilketopf spielte in der Familie Kück und damit auch in der Künstlerkolonie eine zentrale Rolle. Wenn jemand zu Besuch kam, dauerte es keine zehn Minuten, bis es Linsensuppe gab. Greta stellte den Topf auf den Tisch, wünschte »Guten Appetit!« und bereits nach dem ersten Löffel Suppe kam ihr Satz: »Auch Rilke kochte in diesem Topf, Sie kennen doch sicher RAINER MARIA RILKE, den weltberühmten Dichter? Es war einmal sein Topf.« Dabei unterbrach sie die eigene Mahlzeit, um den Gast zu betrachten, so als überprüfte sie den Grad seines Erstaunens. Immer wenn Besuch eintraf, saß Paul als Erster am Tisch und wartete schon gespannt auf das Staunen.
    Eine gewisse Zeit verkehrte auch der uneheliche Sohn von Rilke unter den Kücks, ihn konnte man mit dem Topf natürlich nicht beeindrucken. Er war ein hagerer Mann mit länglichem Hals und abfallenden Schultern, der im Archiv der Künstlerkolonie arbeitete. Rilke hatte ihn nach seiner Flucht aus Worpswede in Südschweden gezeugt, in der Nähe von Sundsholm, mit einer Cousine der Reformpädagogin Ellen Key, die das Buch »Das Jahrhundert des Kindes« geschrieben hatte. Später sagte man, dass die Mutter eine etwas ältere, reiche Münchner Pelzhändlergattin gewesen sei, mit der Rilke eine Nordafrikareise unternommen und die dann in Kairouan erotische Begehrlichkeiten entwickelt habe.
    Der Sohn, der nun ein älterer Herr geworden war,

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