Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Zimmer.
»Du kannst meinen Sohn schon in dein Archiv aufnehmen«, erklärte sie. »Er wird zusammen mit deinem und meinem Vater der größte Künstler, den diese Kolonie je gesehen hat.«
Danach meldete sich Paul sogar von selbst in der Malschule an. Die ersten Bilder entstanden mit Tusche und mit Bienenwachs-Malstiften von Stockmar. Paul zitterte die Hand, wenn er auf das Moor, die Flüsse, Bäume und den Himmel der anderen Malkinder sah. Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen stand er vor seinem Bild. Der Gedanke, dass ihn seine Mutter abholen würde, bevor er eine halbwegs modersohnhafte Landschaft mit Himmel auf dem Malbogen hatte, erfüllte ihn mit Panik.
Auch musste man in der Malschule lernen, warum der berühmte Himmel über Worpswede glänzte wie Seide, schimmerte wie Opal, brannte und glühte wie Feuer, mit wilden Wolkenheeren kämpfte wie eine Armee und in Schwermut trauerte wie eine Ballade.
1) Der Brodem des Moores
Die wasserhaltige Nordseeluft
Die Luft des Binnenlandes
Also: Nordseeluft, Binnenluft, Brodem des Moores. Manchmal hieß es auch das »Wrasen des Moores«, aber warum sagte man nicht, was es heißen sollte? Dieses »Brodem« oder »Wrasen« konnte sich Paul nicht merken, ihm reichte es schon, sich »Seide«, »Opal«, »Wolkenheere« und »Ballade« zu merken, und am Ende war er nicht nur schlecht im Himmelmalen, er konnte auch nicht anständig erklären, warum der Himmel über Worpswede glänzte, schimmerte, brannte, glühte, kämpfte und trauerte.
Nach ein paar Wochen Malschule entschied Paul, einen anderen Weg zu gehen. Er schloss sich in seinem Zimmer ein und legte siebenhundert Blatt weißes Papier vor sich hin, was laut seinen Berechnungen ungefähr den »Buddenbrooks« von Thomas Mann entsprach, ein Kunstwerk, das der Großvater ausdrücklich gerühmt hatte. Aus dem Fenster sah er seinen Vater draußen über den Zeichnungen der Hasenmenschen sitzen. Der Großvater ließ sich einen seiner historischen Bronzemenschen im Garten aufstellen und verschwand mit ein paar Ladungen Ton im Atelier, während Greta Butterkuchen backte oder Linseneintopf vorkochte. Nur Pauls Mutter saß unruhig im Garten, fing Dinge an und ließ sie wieder liegen. Sie war in einer Minute begeistert, erfüllt und in der nächsten schon wieder kalt, ungeduldig und stritt mit seinem Vater, der nicht gerne vom Menschentag unterbrochen wurde. Wenn Paul seine Mutter beobachtete, dachte er oft, dass sie vielleicht auch noch nicht ihren Weg gefunden hatte. Ein paar Tage wanderte er noch in seinem Zimmer um die weißen Papierberge herum und fragte sich, wie sie sich wohl in ein Kunstwerk verwandeln ließen, dann tauschte er sie gegen ein kleines Notizbuch ein, das ihm seine Großmutter bei Stolte gekauft hatte.
Paul lief vom Inder den Weinbergsweg hinunter. Er wollte sich am Rosenthaler Platz noch etwas in sein Weltverlorenheitscafe setzen, bevor er wieder in die Brunnenstraße zurückkehren und Pauls Painter öffnen würde. Am Anfang hatte er überlegt, die Galerie einfach »Kück« zu nennen. Die anderen, im besseren Teil der Brunnenstraße, hießen »The Curators without Borders«, »Nice & fit« etc., er überlegte »Galerie Kück«, aber auch nur, weil er es für origineller hielt als dieses englische Herumgetexte.
Kück war da, wo er herkam, kein ungewöhnlicher Name. Innerhalb des Teufelsmoors war Kück ein Name, der so bekannt war wie die Modersohns oder die Buddenbrooks. Man kannte und achtete die Kücks. Nur außerhalb des Moors und der Künstlerkolonie führte der Name zu Nachfragen, Belustigungen, Aufforderungen zu buchstabieren, Paul hasste das.
»Sie meinen mit vorne und hinten einem K und in der Mitte ein U, das ist doch türkisch?«
»Nein, das ist nicht türkisch, es gibt ganz viele Kücks bei uns da oben.«
»Kommt das von Küken?«
»Nein, mit ck, so wie Glück!«
So stolz er anfangs auf sein hinteres Kück war, umso mehr empfand Paul mit den Jahren eine Art Kück-Komplex und nannte sich nur noch Wendland, obwohl ihn seine Mutter manchmal so komisch anschaute, wenn er sich gegenüber anderen als Paul Wendland ausgab, ohne Kück.
Die Kücks mit »ck« so wie Glück gingen davon aus, dass ihre Vorfahren nicht türkische, sondern wichtige niederländische Berater vom kurfürstlichen Johann Christian Findorff gewesen waren, der hier mit ihnen die Moorkolonisation, die umfassende Entwässerung durchgeführt hatte im Auftrag des Königs von Hannover. Pauls Großvater hielt sich als
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