Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
erschien meist zu Fuß, wanderte durch die Wiesen und brachte alte Ausgaben seines Vaters mit, in manchen lag noch Rilkes taubenblaues Briefpapier. Wenn Greta nicht vom Rilketopf sprach, zitierte sie Verse, in denen bei Rilke die Blätter trieben und die Menschen allein blieben und lange Briefe schrieben, wenn der Herbst gekommen war.
»Oh, dieser Ton, dieser ganz bestimmte Rilketon!«, schwärmte sie und der Sohn stellte sich mit Anzug und Manschettenknöpfen im Garten neben die ebenfalls hagere Skulptur seines Vaters und rezitierte alle Gedichte von Rilke, in denen Blätter fielen, trieben oder der Herbst gekommen war. Danach roch der Garten immer nach seinem speziellen Eau de Toilette, das er direkt in Frankreich bestellte. Paul saß oft auf seinem Schoß und ließ sich erzählen, wie die Künstlerkolonie entstanden war und wie man früher mit dem Pferdebus oder dem Torfkahn nach Worpswede fuhr.
»Warum hast du denn so schwarze Hände?«, fragte Paul, als er die dunklen Innenflächen sah.
»Ach, die viele Arbeit mit der alten Zeit und den Dokumenten«, antwortete er mit leiser Stimme.
»Und warum hast du deinen Vater nie gesehen?«, wollte Paul wissen.
»Als Rilkekind hätte man auch mit den Wildgänsen leben können«, erklärte Pauls Mutter.
Abends zeigte ihm der alte Sohn, wie man die Hose und das Hemd zusammenlegte und über den Heinrich-Vogeler-Stuhl hängte für den nächsten Tag - und Paul beobachtete, ob die Hände mit der alten Zeit sein Hemd beschwärzten, aber es blieb immer sauber und duftete nach Frankreich.
Wenn Paul als Kind gefragt wurde, woher er denn komme, sagte er klar und deutlich »Aus Worpswede!« und sah die Menschen prüfend an. Er unterschied wie sein Großvater Dummköpfe und Nichtdummköpfe nur dadurch, ob sie Worpswede kannten.
»WORPSWAS? «, erkundigten sich die Dummköpfe.
»WORPSWEDE!«, sagte Paul, »das ist das berühmteste Dorf, das es auf der Welt gibt.«
»Ah, aus Worpswede«, riefen die Nichtdummköpfe, »aus der KÜNSTLERKOLONIE! Da willst du doch bestimmt auch Künstler werden, hast du denn schon das Moor gemalt, ist doch Moor, Teufelsmoor, oder?«
Von Wollen konnte keine Rede sein, Paul musste Künstler werden und irgendwie das Teufelsmoor thematisieren!
Kein Moor auf der Welt wurde mehr gemalt und beschrieben als diese sumpfigen Moorwiesen von Worpswede. Generationen von Malern waren nach Worpswede gekommen, Maler mit so erdigen Namen wie Mackensen, der Gründer der Künstlerkolonie, Modersohn, Overbeck, Vogeler oder Hans am Ende. Die Bilder, die sie malten, trugen Titel wie: »Das Moor«, »Die Moorwiese«, »Der Moorweg«, »Der Moorgraben«, »Der Moorkanal« oder »Wolken über dem Moor«, »Sturm im Moor«, »Herbststurm über dem Moor«, es gab auch »Gewitterwolken über dem Moor«, »Moor mit Mond«, »Moor vor Birkengruppe«, »Bauernmädchen auf Moorwiese« oder auch »Moorwiese mit Wollgrasbüschel im Morgenwind«, »Gottesdienst im Moor«, »Ein Mann geht ins Moor« und so weiter. Irgendwann kam noch der Dichter Rilke nach Worpswede, wanderte zwei Jahre durch die Wiesen und beobachtete die Maler, wie sie das Moor malten, worüber er ein Buch verfasste. Aber das war alles lange her und Paul hatte es schon tausendmal gehört. Er wusste, dass die Maler in seinem Dorf gelebt, das Moor in allen erdenkbaren Variationen gemalt hatten, und dass Paula Modersohn-Becker am Ende die Berühmteste von ihnen gewesen war, weil sie zwischendurch auch mal einen anrührenden Menschen auf die Leinwand gebracht hatte.
Und dann gab es natürlich auch noch den Heinrich- Vogeler-Kult! An Heinrich Vogeler kam man in Worpswede nicht vorbei, er hatte einfach alles hergestellt: Moorbilder, andere Bilder, auch Bücher, Buchumschläge, Stühle, Betten, Tapeten, Kaffeetassen, Teller, Gabeln, Messer, Löffel, sogar jede dritte Türklinke, die man in Worpswede herunterdrückte, war von Heinrich Vogeler entworfen. Als Kind lernte man über Heinrich Vogeler in der Grundschule:
1) Weltberühmte Bilder und Zeichnungen
Stühle und Betten
Tassen und Teller
Die Welt möblierte sich mit Ikea, Worpswede mit Vogeler.
Einen Satz seiner Mutter hatte Paul nie vergessen. Wieder war der Rilkesohn da, wieder falteten sie die Hose und legten sie ordentlich über den Vogeler-Stuhl.
»Vielleicht wirst du mich einmal in Erinnerung behalten als den Mann, der so gerne Hosen faltete«, sagte der alte Sohn. »Und was willst du einmal werden?«
Bei der Frage kam Pauls Mutter ins
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