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Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
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Himmel keine Zeit mehr hatte. Sie überließ ihn dem Ehemann, doch Otto Modersohn war besser mit Wiesen, Gräsern, Tieren, bei den Wolken war er zu hart und zu unbeweglich in den Umrissen und malte stattdessen eher so etwas wie parkende Autos, fliegende Kühe, Wale oder Affen.
    Ohlrogge schloss für einen Moment die Augen. Er sieht wieder den Kückgarten, das Schlafzimmerfenster - er hört die Schritte ihres Vaters, des Wachpostens, wenn sie sich im Bett lieben. Er sieht, wie er die Pistole auf Klein-Goya richtet und dann sein eigenes Blut auf die Moorwiese tropft. Wie ihn die Gartengesellschaft anstarrt. Der Vater langsam sein Gewehr senkt und sich Johanna abwendet und ins Haus läuft. Wie seine Liebe ihn blutend stehen lässt.
    War das ein würdevolles Bild?
    Ja, dachte Ohlrogge. Ein blutleerer Konzeptkünstler wie dieser Gustav aus der Therapiegruppe hätte es nicht verstanden, aber ein Mensch, der blutete, weil er liebte, das war würdevoll!
    Machte sich ein Mensch klein, wenn er um die Liebe kämpfte?
    Nein, dachte Ohlrogge. Selbst als er zu Johannas schrecklicher Hochzeit gefahren war, hatte er sich würdevoll gefühlt. Wenn Gott in der Liebe wohnte, wie der Papst ständig sagte, dann war auch Gott mit auf dem Güllewagen, als Ohlrogge in den Garten eindrang und nur seinem Herzen folgte. Später, als sich die Liebe verabschiedete und nur Hass und Wut blieben, da war auch die Würde weg und er begann sein kleines Leben aus Abrechnungen, aus Listen, Schuldzuweisungen und Opferrollen.
    Seit einiger Zeit hörte er bestimmte CDs. »50 Wege loszulassen«, »Emotionales Loslasssen in 12 Schritten«, »Lass die Vergangenheit los und fange an zu fliegen«, »Beende den Krieg im Hirn (Teil 1 und 2)« oder »Glücklichsein ist die beste Vergeltung«. Ohlrogge hatte inzwischen eine richtige Sammlung von Loslass-Audio-CDs. Meist konnte er den salbungsvollen Stimmen mit sphärischer Musikuntermalung nicht richtig zuhören und ließ die CDs nebenbei laufen, während er an andere Dinge dachte.
    Vor ein paar Tagen hatte er seine neueste CD eingelegt, es war die erste, bei der er hellhörig wurde. Es ging um das Durchbrechen von Denkmustern, um Improvisationen mit neuen Rollen. Man sollte lernen, Rollen anzuprobieren wie Kleider, so eine Art Kleiderprobe mit anderen Sichtweisen und mutigeren Auftritten. Im Prinzip war es das, was Frau Bender immer sagte: Rollenspiele, um andere Facetten des eigenen Ich zu entdecken. Was immer man für eine Rolle spielen würde, es kämen neue Aspekte zum Vorschein.
    Ohlrogge hatte sich Dr. Rudolph in der Bremer Universität vorgestellt, wie er damals seinen Assistenten herumkommandierte; wie er besessen war vom Graben nach der Worpswede-Wahrheit; ja, mit welcher fanatischen, aber auch gleichzeitig wissenschaftlichen Wahrheitssuche er die Liste mit der Nordischen Gesellschaft heraussortierte. Musste sich Ohlrogge das nicht zu eigen machen? Musste er nicht seinen Worpswede-Hass, seinen Kück-Hass, seine Vergangenheitssucht und sein ganzes Lebensdrama in einen wissenschaftlichen, HISTORISCHEN ZUSAMMENHANG bringen und damit neu einkleiden? Mit dieser Frage hatte er gestern gezielt Frau Bender angerufen. Er nutzte jetzt nur noch ihre therapeutische Telefonberatung, die war nämlich ohne Gruppe und ohne Gustav, der ja sonst immer dazwischengequatscht hätte mit seiner Volksbankparanoia.
    »Also, hören Sie mal, mein Van-Dyck-Braun trocknet! Geht's endlich los?«, fragte die Frau mit der Schürze und streckte vorwurfsvoll ihren Pinsel vor.
    »Gleich ...«, antwortete Ohlrogge. »Einen Moment bitte ... Ich bin noch in der Motivsuche ...«, aber er entfernte sich innerlich sofort von der Malgruppe und hing wieder seinen Gedanken nach. Frau Bender hatte ihm in der Telefonberatung gesagt, er würde sich selbst betrügen mit dem »historischen Zusammenhang«, den er sich da zurechtkonstruierte. Sie vertrat zwar das vielseitige Rollenspiel, aber ausgerechnet die Historikerrolle, die Ohlrogge sich vorgenommen hatte, die lehnte sie mit der Begründung ab, er würde nur einen neuen Vorwand suchen, um mit dem Alten weiterzumachen.
    Ohlrogge war komplett anderer Meinung: Erstens konstruierte er sich nicht etwas zurecht, sondern es gab diesen HISTORISCHEN ZUSAMMENHANG, und er hatte die Pflicht, die historische Wahrheit ans Licht zu bringen! Jeder hatte diese Pflicht, wenn es darum ging, die Vertreter eines Menschheitsverbrechens anzuklagen! Zweitens würde er durch ein solches Rollenspiel lernen, spielerischer mit

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