Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Melodie, die klang, als würden Kosaken in den Moorwiesen tanzen, die Musik wurde schneller und schneller.
Ohlrogge drehte sich um, stieg auf sein Fahrrad und fuhr nach Hause, ohne sich von seinem Kurs zu verabschieden.
Er würde sich jetzt ein paar Tage vorbereiten und dann noch einmal mit seiner neuen Rolle in den Kückgarten einbrechen und die historische Wahrheit hervorholen, sagte er sich, immer energischer in die Pedalen tretend. Er würde die Wahrheit ansehen, er würde dafür sorgen, dass sie jeder ansah. Er würde den Reichsbauernführer in Worpswede vor die Große Kunstschau stellen und wie Dr. Rudolph Vorträge halten, über Worpswede, über die Geschichte, über die Kücks. Das war seine neue Aufgabe. Und ganz nebenbei würde er den Feind mit den geliebten Augen besiegen und sich damit Johanna, die Kücks und Worpswede ein für alle Mal aus dem Herz und aus den Eingeweiden reißen. Er würde sich endlich von allem erlösen und ein neues Leben beginnen. Und das, wie es die CD am Ende in Aussicht stellte, sogar spielerisch, leicht. Endlich leicht!
Ana und Georgij (Der Kampf mit dem Keilrahmen)
Georgij hatte nach Anas Ankunft sofort gefragt, ob sie nicht ein paar Tage bleiben wolle. Er hatte auch die ganze Zeit auf ihren pinkfarbenen Trainingsanzug gestarrt, bis Ana irgendwann die Tasche fallen ließ und sich im Atelier umsah, das ganz hell war, mit großen Fenstern. Kurze Zeit später öffnete sie ihre Tasche, hängte ein paar Kleider in den Schrank und richtete sich ein, während Georgij schnell ins Künstler-Fachgeschäft lief. Er kaufte Farben, Leinwände und informierte sich über Pinsel. Er erwarb den unverzichtbaren Keilrahmen und eine Spannzange, um Leinwände aufzuspannen. Staffeleien, Paletten und einige Malmittel gab es ja schon als Grundausstattung in seinem Barkenhoff-Atelier. Er kaufte noch die englische Ausgabe des Malkunde-Buchs »The technique of plein-air-painting« und überflog das erste Kapitel über das Aufspannen von Leinwänden, während er zurück durch die Marcusheide lief.
»Verkaufst du viel?«, fragte Ana, als sie aus der Dusche kam und eingerollt in ein riesiges Heinrich-Vogeler-Handtuch nach gemalten Bildern im geräumigen Atelier suchte.
Georgij nickte.
»Was kostet denn ein Bild? Und was malst du gerade?«, wollte sie als Nächstes wissen.
»Ach, ich bereite mich auf etwas Neues vor«, antwortete Georgij.
Er schlug ihr vor, ob es nicht einfacher wäre, gemeinsam im Schlafzimmer zu schlafen, im Atelier gab es ja nichts zum Liegen.
»Ich habe, als ich den Berg hinunterlief, ein Sofa in einem Baum hängen sehen, vielleicht nehmen wir das? Ein richtiges Sofa, ein blaues!«, erzählte Ana.
Georgij lachte etwas angestrengt und nahm den Keilrahmen in die Hand. So, jetzt alles richtig machen!, dachte er. Er griff zur Spannzange.
Ana blickte aus dem Fenster. Ihre Augen durchliefen den leicht abschüssigen Garten, wanderten wieder hoch und auf eine Treppe zu, die aussah, als breiteten sich Engelsflügel aus. Die Flügel wiesen den Weg hinauf auf eine großzügige Terrasse, die für sie das Schönste war. Wie ein festlicher Platz vor einer Villa mit weißer, fast kathedralenartiger Fassade und einem dunkelrot leuchtenden Dach.
»Wenn ich bei dir schlafe«, sagte Ana und bemerkte, dass man aus dem Schlafzimmer die Engelsflügel am besten sehen konnte, »dann musst du mich da auf der Terrasse malen. Okay?«
Es gefiel ihr, sich das vorzustellen: ein Ana-Bild, gemalt von diesem Georgij Aleksej Petrov, Maler der Petersburger Kunstakademie, im Hintergrund die Terrasse, auf der die Tochter von Lenin gesessen hatte. Außerdem interessierte sie, wie ein richtiger Maler Stück für Stück etwas Tieferes aus ihr hervorholte, eine andere Ana. Und sie am Ende eine andere, neue Ähnlichkeit mit sich feststellen könnte. Auch wollte sie wissen, wie jemand mit den Schattierungen bei ihr umgehen würde, sie hatte so etwas bei den Männern immer weggelassen. Und diese kleinen blauen Adern mit dem pulsierenden Blut, die durch die Haut schimmerten, das war bestimmt das Schwierigste.
Als Georgij seine Besorgungen im Fachgeschäft gemacht hatte, war sie schon in die Villa gelaufen und über die knarrenden Holzstufen ins obere Stockwerk hinauf. Dort blieb sie vor einem Bild mit einer Frau stehen, von der Ana glaubte, dass sie ihr ähnlich sah. Sie trat zu einer Vitrine mit Briefen und spiegelte sich darin. Sie sahen sich wirklich ähnlich: das weiße schmale Gesicht, die rotbraunen Haare,
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