Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel

Titel: Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Moritz Rinke
Vom Netzwerk:
die großen Augen. Auf dem Bild musste die Frau ungefähr so alt sein wie Ana, 24 vielleicht. Nur stand diese Paula viel lebensfroher da. So würde sie sich auch gerne überall hinstellen, dachte Ana und hob Kinn und Nase, so wie die Malerin auf dem Bild, die sich selbst gemalt hatte. Vielleicht war ein Selbstbildnis auch ein Bild, das man haben wollte, um sich Mut zuzusprechen, wenn man einsam war? Einsam war diese Paula bestimmt, aber sie hielt Kopf und Nase hoheitsvoll dagegen.
    Ana hatte eine Weile vor dem Bild gestanden, dann ging sie zum nächsten. Sie sah ein Mädchen in den Wiesen, mit gelber Blume und tiefen und traurigen Augen, die irgendwo hinschauten, so als wartete es.
    Georgij kämpfte immer noch mit dem ersten Keilrahmen seines Lebens, den er demonstrativ in die Hand genommen hatte.
    »Und? Malst du mich?«, fragte Ana.
    »Kann man machen«, antwortete er knapp, während er sich vorstellte, wie die pinkfarbenen Beine, die auf dem wahnsinnigen Bewerbungsfoto den Stuhl umschlossen, vermutlich schon in der kommenden Nacht ihn, Georgij Aleksej Petrov, umschließen würden, immerhin waren sie ja bereits jetzt nur noch ins Heinrich-Vogeler-Handtuch mit den jugendstilartigen Schwänen und Vögeln gehüllt. Er dachte so selbstbewusst über die kommende Nacht, weil es ihm gerade im zweiten Anlauf tatsächlich gelungen war, eine Leinwand mit der Spannzange auf den Keilrahmen zu ziehen, genauso wie er es im ersten Kapitel von »The technique of plein-air-painting« gelesen hatte. Allerdings dehnte er im nächsten Augenblick den Bildmittelpunkt derart, dass sich das Leinengewebe überspannte und in der Mitte durchriss. »Stretch, but do not overstretch«, hieß es im Einführungskapitel. Georgij warf die Spannzange möglichst locker in die Ecke, so als liefe alles planmäßig.
    Nachts konnte Ana nicht schlafen. Die Hand von Georgij, die sich vortastete wie eine Schnecke, hatte sie behutsam wieder auf seine Seite gelegt. Sie streichelte ihm flüchtig über den Arm. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte »Gute Nacht« und »Danke für alles«. Dann suchte sie noch eine zweite Decke.
    Später stand sie leise auf, lief in den Garten und setzte sich auf den Vorplatz. Sie zog einen Stuhl unter das Dach und hörte dem Wind und dem Regen zu.
    Irgendwann tauchte aus der Dunkelheit eine Gestalt auf, die im Mondlicht aussah wie ein grünes Gespenst. Es setzte sich auf die Treppe mit den Engelsflügeln und starrte in die Nacht.
     

Die unheimliche Scheune (Fragen zu den Huren der Zeit)
    Nullkück zog seine Gummistiefel an, Paul hielt den rostbraunen Schlüssel für die Scheune schon in der Hand.
    »Gehen wir«, sagte er und spürte die Kinderangst, die er von der dämmerigen Marcusheide her kannte. Er steckte den Schlüssel in das Schloss und sperrte auf. Nullkück stieß einen kurzen Schrei aus. Paul erstarrte.
    Sind Sie Paul Kück? Sie haben sich gar nicht verändert. Soll ich lächeln?
    Die Reste vom alten, feuchten Stroh und Heu hatte die Luft so erhitzt, dass Torf und Bleichmoose aus allen Ritzen des Gesichts geflossen waren. Paul sah in beide Augen, die ein Sonnenstrahl erhellte, der durch die offen stehende Tür der Scheune fiel. Auch die Mundecken und Zähne waren nunmehr gänzlich freigelegt. »Paul, wie setzt sich eine Bronzelegierung zusammen?«, schoss es ihm durch den Kopf. »Aus Kupfer, Zinn, Blei und ein bisschen Zink«, hörte er sich seinem Großvater antworten.
    Wo waren wir stehen geblieben? Beim Bauernreich, richtig! Herr Kück, ich bin von Kopf bis Fuß Agrarier und Ackermann. Das Dritte Reich wird ein Bauernreich sein, und ich sage nur: Blut und Boden und Scholle. Soll ich Sie frontal ansehen oder brauchen Sie eher mein Profil?
    »Die Stimme, woher kommt diese Stimme, hörst du das?«, flüsterte Paul.
    Nullkück sah sich ängstlich um.
    »Wir brauchen sofort eine Plane, wir müssen den einpacken! Die schwarze Bauplane, weißt du, die gab's doch früher immer?«
    Nullkück trat mit vorsichtigen Schritten hinter die alten Landwirtschaftsgeräte und ging vorbei an der Kartoffel- und Obstwaage, die mit ihren Spinnweben aussah wie ein graues Gespenst, das jetzt ein anderes Gespenst betrachtete, welches von der Vormittagssonne erhellt mit erhobener deutscher Grußhand kalt auf seinem Sockel dahinlächelte.
    Hätten Sie sich getraut, meinen Auftrag abzulehnen? Entschuldigen Sie, ich wackle, ich muss kräftig lachen, ich kann aus jedem einen Kommunisten machen. Denken Sie daran, Herr Kück!
    Das ist

Weitere Kostenlose Bücher