Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
Mackensen«: Er stieß immer auf Nationalsozialismus und Pferde. Und wie absurd das war. Er saß hier im Schlafanzug-Oberteil von Nullkück - alte Perlmuttknöpfe, feste Baumwolle, von Hilde gekauft und gepflegt - und googelte an seinem Kindheitsknoten herum.
Er gab noch »Nullkück« ein.
Keine Einträge. Der Service fragte nur, ob er »Nullbock« meinte.
Paul hielt inne, dann gab er »Rilke-Sohn« ein. Er drückte auf Enter.
Dreijähriger Wallach aus Verden an der Aller, Sohn des Rilke v. Ritual, Wendekreis-Wiesenbaum-Linie.
Berühmte deutsche Zuchtlinie, www.pferdeverkauf.com. Sonst nichts. Aber warum sollte es diesen Sohn mit den schwarzen Archivhänden nicht gegeben haben, nur weil er in den digitalen Archiven auf Anhieb nicht zu finden war? Dieser Mann, der ihm in seiner Kindheit so liebevoll die Hosen gefaltet und der im Garten neben dem gegossenen Vater die Herbstgedichte rezitiert hatte - es musste ihn gegeben haben!
»Rilke-Kind« Enter:
Ruth Fritzsche (verw. Sieber, geb. Rilke)
* Worpswede-Westerwede 1901 + 1972 Fischerhude. Freitod. (www.Rilke.ch)
Nach dem Selbstmord der Rilke-Tochter habe man in der Wohnung Müll aus dem ganzen Jahrhundert gefunden:
Hausmüll aus den 50er- und 60er-Jahren, gemischt mit Rilkes Sachen, der auch nichts wegschmeißen konnte, Müll aus Paris aus den 20er-Jahren, Müll aus München, aus Locarno, Müll aus Worpswede-Westerwede um die Jahrhundertwende gemischt mit dem Tochter-Müll aus den 70er-Jahren, alles aufgetürmt und gehortet und geklammert. Die Rilke-Tochter überforderte der Nachlass ihres Vaters, sie litt unter dem Messie-Syndrom.
Warum hatte er von einer Worpsweder Rilke-Tochter nie etwas gehört?
»Messie-Syndrom«. Enter:
Der Begriff Messie-Syndrom (von engl. Mess = Unordnung, Dreck, Schwierigkeiten) bezeichnet schwerwiegende Defizite in der Fähigkeit, die eigene Wohnung ordentlich zu halten, manchmal verbleiben nicht einmal mehr Fußwege. Es können ernsthafte seelische Störungen vorliegen. (Verlassen-Werden, Trennung, Anpassungsstörungen) Meist will der Messie keine seiner Erinnerungen mit dem Hausmüll entsorgen.
»Rilke-Topf - Patentkochtopf Everything - Kalifornien 1902«. Enter:
Nichts.
Probieren Sie allgemeinere Begriffe. »Willy Brandt - Paul Kück« Enter: Nichts.
Paul ging in den Garten. Er lief zwischen den historischen Männern, seiner Großmutter und Marie umher und setzte sich auf den Sockel von Willy Brandt.
»So eine schöne, hohe Stirn«, hatte sein Großvater gesagt, als er am Brandt-Modell arbeitete.
»Warum hat er denn Ecken in den Haaren?«, fragte Paul.
Sein Großvater trat einen Schritt zurück in seiner blauen Arbeitsschürze, darunter der Norweger-Pullover, die Pfeife im Mund. »Stimmt. Er hat Ecken in den Haaren! Ein Mensch mit solchen Ecken und Kanten hat viel erlebt. Er ist der Beste, um die alten und jungen Menschen in unserem Land zu verstehen.« Nach einer Weile sagte er: »Die Lebenswege, Paul, die sind nicht weiß und sie sind nicht schwarz. Schau mich an, ich bin grau. Die Menschen, die durch die Zeit gehen, werden grau.« Dabei versuchte er mit zarten Bewegungen die Gesichtslinien mit seinen Fingerkuppen zu ziehen und fragte sich, ob es Grübchen waren oder Falten. Er entschied sich für Falten. Er war mit allem sehr sorgfältig und genau.
Paul mochte es besonders gern, wenn die Revers-Ecken mit dem Modellierholz geschlitzt wurden. Bei Willy Brandt durfte er das erste Mal selbst schlitzen. Brandt trug meist Sakkos mit einer Reversspitze, die nach unten wies, und so schlitzte Paul von oben nach unten, während der Großvater sein Arbeitsjournal aus der Schublade zog.
Ecken in den Haaren. (Hinweis vom Enkel, der heute die Revers-Sache übernimmt!) Bei Brandt auf Linien, Kanten achten. Nicht zu viele Rundungen. Ein schweigender, ein ferner Mensch wie ich. Wenn man zu uns wollte, müsste man in die Falten steigen.
5. Januar 1974
Paul stand vom Brandt-Sockel auf und sah sich die Skulptur genauer an. Ja, diese Schlitze im Sakko von Willy Brandt, die waren von ihm.
Er lief in die Küche und sagte: »Der Mann in der Scheune muss weg! Hamme, in die Hamme! Heute Nacht! Wie machen wir das?«
Nullkück stellte den Teig ab, den er bereits für das Mittagessen vorbereitete, diesmal mit zimmerwarmem Wasser, einem Schuss Kaffee und geschmolzener Butter. Er wog seinen Kopf spekulierend nach rechts, nach links und unterbreitete seinen Vorschlag: »Trecker!«
»Habe ich
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