Der Mann,der durch das Jahrhundert fiel
seiner Vergangenheit umzugehen und endlich aus seinem Leid-Ohlrogge herauszukommen. Und drittens konnte er ja nicht einfach als Ohlrogge in einen Garten einmarschieren, der ihm gar nicht gehörte? Nein, er musste sich schon deshalb eine Rolle geben, eine kühle, rein forschende Historiker-Biografie, in die er sich hüllen konnte wie in einen Tarn- und Schutzmantel, mit einem Auftrag ausgestattet. Diesmal ging er eben nicht in seinem Froschanzug zu den Nutten, sondern im Historikermantel zu den Kücks, der ihn gleichsam tarnte, schützte und in eine gewisse Distanz brachte. Und einen Schutz- und Distanzmantel brauchte er auch! Mit voller Wucht stand nämlich plötzlich die Vergangenheit vor ihm - lebendig!
War der junge Mann von heute Morgen der Sohn von Johanna?
Er musste es gewesen sein! Wie Johanna aus seinen Augen gesehen hatte - wie auf einmal wieder dieser Blick aus der Tiefe heraufgestiegen war! Dagegen half nichts. Keine noch so fortgeschrittene Zeit. Keine Gewissheit, dass der einst so geliebte Mensch ebenfalls alt geworden war. Nicht einmal der Schutz- und Distanzmantel half, und Ohlrogge leistete innerlich schon Abbitte bei Frau Bender und ihrer Mahnung, diese spezielle Rolle würde ihn nur weiter in das Alte verstricken, ihn seine ewige Leier weiterspielen und in der Vergangenheitssoße endlos herumrühren lassen.
Er war durch den Garten gelaufen und hatte das Vergangene noch einmal wie gebündelt gefühlt, was nun wirklich keine neue Rolle war, er hatte ja schon die vergangenen dreißig Jahre alles wieder und wieder nachgefühlt, allerdings nicht so geballt und am Originalschauplatz! Er konnte im Garten kaum sprechen und einen Fuß vor den anderen setzen, so sehr zog das große Verlassensein mit einem Kälteschlag wieder in seinen Körper ein: erst verließ ihn Johanna im Eismantel, dann verließ ihn Worpswede, danach seine Kunst, schließlich verließ ihn der Rest der Welt und am Ende blieben nur Nutten, Karussellfrauen auf Tonband im Telefon, Hobbymaler, Kühe und die Therapie bei Frau Bender, sein Repertoire war nicht besonders groß.
Die Augen, dachte Ohlrogge. Die Augen, er musste es sein! Der Rest war fremd: Lippen, Ohren, Nase. Er stellte sich vor, wie er dem Kind seiner großen Liebe nur die Augen herausreißt, die vertrauten Augen. Sie auf einen Obstteller legt wie Cezanne und den geliebten Blick realistisch mit seinen alten Farben malt: immer wieder, zwei vertraute, schöne, blaue, offene und tote Augen. Den Rest des Körpers würde er - so wie es hier jeder tat - tief vergraben, in die Erde werfen, ins Moor.
»So was habe ich noch nicht erlebt!«, rief die Dicke mit dem Borstenpinsel. »Wir stehen hier seit zehn Minuten malfertig in der Gegend rum und nichts passiert! Auf was warten wir eigentlich, Herr Malermeister?«
»Halten Sie die Klappe und legen Sie Ihren Pinsel ab, Sie dumme Pute!«, antwortete Ohlrogge.
So ehrlich war er noch nie zu einer Kursteilnehmerin gewesen. Er wollte, dass diese Frau nie wieder einen Pinsel anfasste und malfertig im Moor herumstand. Mein Gott, wie es ihn anwiderte, sein Leben mit Hobbymalern in der Hamme-Niederung zu verbringen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie ungewöhnliches Talent hätten, ihre Pinselführung sensationell sei und dass sie immer weitermalen und das Moor weiter auf sich einwirken lassen müssten, nur damit sie seine Frühlings-, Sommer- und Herbst-Kurse weiter besuchten.
Diesmal war es ganz besonders schlimm. Wie ihm die dicke Oldenburgerin den Borstenpinsel mit dem Van-Dyck-Braun entgegenstreckte! Außerdem hatte er gerade so viele Broschüren von Dr. Anton Rudolph über die alten Worpsweder Künstler gelesen, dass er weder dasVan-Dyck-Braun noch das Rubens-Braun, Kasseler Braun oder andere braun-schlammige Farbpigmente ertragen konnte. Ihm war sogar, als würde die Oldenburgerin sein Herz damit dunkel anmalen. Er streckte vorsichtshalber seine Luftpumpe der Frau entgegen, die überhaupt keine Anstalten machte, ihren Pinsel abzulegen, im Gegenteil: Sie hielt ihn immer höher, anklagend, knallrot im Gesicht und angestachelt vom empörten Getuschel ihrer Kolleginnen, wie zum Duell bereit.
»Sie können froh sein, dass Sie in meinem Kurs überhaupt die Farbe anrühren durften! Ich bin der beste Himmelmaler, den es in Worpswede je gegeben hat, Sie untalentierte Sumpfblüte!«, sagte Ohlrogge.
Der einzelne Herr, der immer noch an seiner Staffelei herumschraubte, griente lautlos in sich hinein, und in der Ferne hörte man eine
Weitere Kostenlose Bücher